Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus„Wir sind im Schatten des Holocausts aufgewachsen“

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Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war das Piusheim eine sogenannte "katholische Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche".
Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war das Piusheim eine sogenannte "katholische Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Zum zweiten Mal hat im Landkreis Ebersberg eine zentrale Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus stattgefunden. Dieses Mal im Piusheim, wo drei jugendliche Sinti gelebt haben, bevor sie deportiert und in KZs ermordet wurden.

Von Johanna Feckl, Baiern

Herbrecht Josef Reinhardt, geboren am 10. Juni 1927 in Stuttgart. Martin Reinhardt, geboren am 21. November 1928 in Karlsruhe. Donatus Schneck, geboren am 3. März 1925 in Stuttgart. So hießen die drei jugendlichen Sinti, die am Montagabend im Piusheim im Mittelpunkt standen. Seit bald 30 Jahren ist der 27. Januar ein gesetzlich verankerter Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus – an jenem Datum im Jahr 1945 ist das Vernichtungslager Auschwitz befreit worden. Zu spät für die Brüder Herbrecht und Martin Reinhardt, sie starben in Auschwitz im Januar 1944, Donatus Schneck kam im August 1944 im KZ Buchenwald ums Leben.

Die drei Jugendlichen haben nicht nur gemeinsam, dass sie die schrecklichen Qualen eines Konzentrationslagers durchleiden mussten und dort ermordet wurden. Auch lebten sie alle bis zu ihrer Deportation im Jahr 1943 im Piusheim, damals eine katholische Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche.

Wegen eines Wasserrohrbruchs fand die Veranstaltung nicht wie geplant in der Aula statt, sondern in der Turnhalle. Dem großen Andrang hat das aber keinen Abbruch getan.
Wegen eines Wasserrohrbruchs fand die Veranstaltung nicht wie geplant in der Aula statt, sondern in der Turnhalle. Dem großen Andrang hat das aber keinen Abbruch getan. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Zum zweiten Mal hat der Landkreis Ebersberg zum 27. Januar eine zentrale Gedenkveranstaltung organisiert – im vergangenen Jahr fand sie in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern des Max-Mannheimer-Gymnasiums in Grafing statt. Obwohl der Ort für das diesjährige Gedenken in der Gemeinde Baiern etwas abgelegen und in den Abendstunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln quasi nicht zu erreichen ist, mussten kurzerhand fünf Turnbänke hereingetragen werden, damit alle Besucherinnen und Besucher einen Sitzplatz bekamen. Dementsprechend zeigte sich Landrat Robert Niedergesäß (CSU) „überwältigt“ von dem Andrang. Anmeldungen habe es etwa 45 gegeben, gekommen waren gut doppelt so viele Gäste, darunter zahlreiche Gesichter aus der Lokalpolitik sowie Nico Franz & The Franz Ensemble, die der Veranstaltung einen gebührenden musikalischen Rahmen gaben – und die stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma, Marcella Reinhardt.

„Wir sind im Schatten des Holocausts aufgewachsen“, erzählte sie über ihre eigene Familiengeschichte. Als Kinder hätten sie und ihre Geschwister sich oft gefragt, warum die Eltern abends weinten – bis sie erfuhren, dass sowohl die Mutter als auch der Vater in KZs deportiert wurden. Sie überlebten, mit viel Glück. So habe der Großvater ihren damals achtjährigen Vater unter den Zug geschubst, als die Familie gezwungen wurde, in eben jenen einzusteigen. Ziel des Zuges: Auschwitz. Der Schubser rettete Reinhardts Vater das Leben, wenngleich er und zwei seiner Schwestern später von der SS aufgegriffen wurden. Die Mädchen wurden zwangssterilisiert, der Bruder konnte sich losreißen und fliehen.

Viele Familienmitglieder der stellvertretenden Vorsitzenden des „Verbands Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern“, Marcella Reinhardt, wurden im Holocaust getötet.
Viele Familienmitglieder der stellvertretenden Vorsitzenden des „Verbands Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern“, Marcella Reinhardt, wurden im Holocaust getötet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

„Wieder befinden wir uns in einer Zeit, in der Rechtsradikale ihre Stimme erheben“, sagte Reinhardt. Wenn sie Menschen sagen höre, „nie wieder ist jetzt“, dann habe sie den Gedanken, dass dieses „jetzt“ eigentlich zu spät sei. „Sie sind schon im Bundestag und anderen Gremien – das hätte nie passieren dürfen.“ Daraufhin brach im Publikum tosender Applaus aus.

Dass unter der Obhut eines katholischen Heims mit Schule die Nationalsozialisten drei junge Sinti deportieren konnten, ist Teil einer historischen Forschungsarbeit des Erzbistums München und Freising. Kirchenhistoriker und Diplomtheologe Stephan Mokry hat daran mitgewirkt und berichtete nun darüber.

Kirchenhistoriker und Diplomtheologe Stephan Mokry sprach über die Ergebnisse historischer Forschungen, die ergaben, dass drei jugendliche Sinti 1943 aus dem Piusheim deportiert wurden.
Kirchenhistoriker und Diplomtheologe Stephan Mokry sprach über die Ergebnisse historischer Forschungen, die ergaben, dass drei jugendliche Sinti 1943 aus dem Piusheim deportiert wurden. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Es sei eine „historische Forschung auf Verdacht hin“ gewesen, sagte Mokry. Er bezog sich auf das Schicksal der 15 Mädchen und 18 Jungen, die aus einem katholischen Heim aus Württemberg nach Auschwitz verschleppt wurden. Wie es dazu kommen konnte, sei gut aufgearbeitet worden und in der Gemeinde sei eine lebhafte Erinnerungskultur entstanden. „Wie war das an anderen Orten, in anderen Bistümern?“, fragte Mokry und machte damit das Ziel des Projekts deutlich.

Aus behördlichen Korrespondenzen, Zeugnissen, Aktenvermerken und Schularbeiten konnte einiges über die Zeit der drei Jungen im Piusheim rekonstruiert werden. Demnach kamen die Brüder Herbrecht und Martin 1942 dorthin, die Familie lebte in München. Im selben Jahr wurde der Vater, Rudolf Reinhardt, durch die Münchner Kriminalpolizei ins KZ Flossenbürg deportiert, wenig später kam er ins KZ Mauthausen-Gusen bei Linz, wo er ermordet wurde. „München war schon ganz früh ein zentraler Ort für die Verfolgung von Sinti und Roma“, sagte Mokry. Bereits 1899 sei dort die sogenannte „Zigeuner-Polizei“ eingerichtet worden – laut dem NS-Dokumentationszentrum in München war deren Ziel, alle infrage kommenden Menschen zu erfassen und zu kontrollieren.

„Kann ein Zigeuner die deutsche Staatsangehörigkeit haben?“, fragte der damalige Schulleiter

Mokry zitierte aus einem Schreiben, ausgestellt vom Münchner Amtsgericht 1941, das wohl ausschlaggebend dafür war, dass Herbrecht nach Piusheim kam: „Reinhardt Herbrecht stammt aus einer Zigeunerfamilie, es fehlt ihm jeder Begriff für Sauberkeit und Ordnung“ – „um der Gefahr sittlicher Unordnung zu entgehen“ solle er in die katholische Erziehungsanstalt gebracht werden.

1942 ordnete Heinrich Himmler, damals „Reichsführer SS“, den sogenannten „Auschwitz-Erlass“ an, der die Deportation aller Sinti und Roma in das Vernichtungslager nach Auschwitz befahl. Vermutlich mit diesem Hintergrund hat laut Mokry der damalige Piusheim-Schulleiter einen Brief geschrieben, in dem er fragte: „Kann ein Zigeuner die deutsche Staatsangehörigkeit haben?“ Immerhin, so führte der Kirchenhistoriker weiter aus, habe das Landratsamt daraufhin geantwortet, dass in diesem Fall die Staatsangehörigkeit „nicht festgestellt“ und die Suche nach ihr „in Gange“ sei.

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Am 2. und 3. August 1944 ermordeten die Nationalsozialisten Tausende Sinti und Roma in Auschwitz. Mit einem der letzten Transporte in die Vernichtung trafen Mädchen und Jungen eines katholischen Heims aus Württemberg ein. Die Rekonstruktion einer Todesfahrt.

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Zur Deportation nach Auschwitz wurden die Jungen dennoch übergeben. Dort starb Herbrecht mit 16 Jahren, sein Bruder Martin mit 15 Jahren – zuvor wurde der Jüngere zu pseudo-medizinischen Zwecken mit Fleckfieber infiziert, wie Mokry sagte.

Über Donatus Schneck und seine Familie ist weniger bekannt, den historischen Nachforschungen zufolge wurde aber auch er im März 1943 aus dem Piusheim zunächst nach München ins Gefängnis gebracht und von dort mit seiner Familie ins KZ Auschwitz deportiert. Seine Mutter, sein Vater, drei seiner Geschwister und seine zweijährige Nichte verhungerten dort. Er selbst wurde in das KZ Buchenwald verschleppt, wo er 1944 mit 19 Jahren bei einem Bombenangriff getötet wurde. Seine Schwester Elisabeth überlebte den Holocaust.

Fotos gibt es von den drei Jugendlichen nicht – zumindest sind bislang keine bekannt, wie Kirchenhistoriker Mokry nach seinem Vortrag erzählte. In der Münchner Sintpertstraße ist im Frühjahr 2021 eine Erinnerungsstele für die Familie Reinhardt errichtet worden. An Donatus Schneck und seine Familie erinnert ein Gedenkzeichen in der Friedenspromenade 40.

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