Literatur aus dem Landkreis:"Wieder einmal"

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Susanne Ospelkaus aus Zorneding: Ergotherapeutin und Autorin (Foto: privat/oH)

Susanne Ospelkaus aus Zorneding hat diese Geschichte geschrieben: nicht nur ein Plädoyer für die Langsamkeit, sondern auch für eine Begegnung auf Augenhöhe mit Menschen, die eine andere Sicht- und Lebensweise haben.

"Endlich Frühling!", ruft Mia, dann schlüpft sie durch die Glastür und tanzt auf der Terrasse. "Endlich Frühling", jubelt sie. "Komm rein! Jetzt! Sofort!", brüllt Sabine. Schon wieder hat ihre Tochter schneller gedacht als gehandelt. In Stoppersocken tanzt Mia auf der schneebedeckten Terrasse. "Mia! Was soll der Quatsch?" Mia tapst ins Wohnzimmer und ihre feuchten Füße machen ein schmatzendes Geräusch. Das gibt Wasserflecken auf dem Parkett, denkt Sabine. "Zieh sofort die Socken aus!" "Der Mann im Radio hat doch gesagt, dass Frühling ist." Mia rührt sich nicht. Die Feuchtigkeit kriecht in ihren Leggins hoch. Sabine eilt zu ihrer Tochter, drückt sie auf den Stuhl und streift ihr die Strümpfe ab.

"Der Mann im Radio hat doch gesagt, dass Frühling ist." Sabine nickt, doch Mia hat nicht genau hingehört. Wieder einmal. Sie hat nicht gehört, wie der Moderator sagte: "Endlich Frühling und doch hat der Winter uns im Griff. Wir erwarten für heute 10 Zentimeter Neuschnee." Wieder einmal, bekommt ihre Tochter nur die Hälfte mit. Sabine zupft an ihrem Kind herum. Sie spürt, dass sie zu grob ist, zu fest anpackt, zu sehr an den Socken zieht. Sie müht sich um Fassung: es sind doch nur nasse Socken, nur Wasserflecken auf dem Boden, nur Zeit, die verstreicht - die sie aber nicht haben. Sabine muss zur Arbeit und Mia in die Förderschule. Der morgendliche Zeitpuffer war schon aufgebraucht, bevor Mia auf der verschneiten Terrasse tanzte.

Wieder einmal kommt etwas dazwischen. Seit Mias Geburt kommt immer etwas dazwischen. Alle, die mit ihr zu tun hatten, sagten, dass sich das verwächst, sie sei nur etwas langsamer, eine Spätzünderin. Später hieß es, sie sei bequem und dabei zwickten sie dem Kleinkind in die Pausbäckchen. Als die anderen Kinder im Kindergarten puzzelten, aber Mia nur ihre Fingerspitzen in die Rundungen der Puzzleteile drückte, wurde die Erzieherin aufmerksam. Als die anderen über einen Holzstamm balancierten, aber Mia sich bäuchlings darüberlegte, wurde Sabine von der Erzieherin angesprochen. Als die anderen Kinder Papier schnitten, aber Mia nur ihr Spiegelbild im Metall der Schere suchte, empfahl die Erzieherin eine Therapie.

Sabine schwankt zwischen dem Bedürfnis, zu wissen, was ihre Tochter hat und der Sehnsucht, sie einfach in Ruhe zu lassen. Man sagte, Mia ist entwicklungsverzögert - so etwas kommt vor. Zwar kennt man keine Ursache, aber man gibt Mias Schwächen Nummern. Nach der internationalen Klassifizierung für Krankheiten pendelt Mia zwischen F80 und F99. Kann man ein Kind durchnummerieren? Mia ist einfach Mia, anders, langsamer und verträumter.

Mia legt die Arme, um den Hals ihrer Mutter und flüstert: "Aber der Mann hat doch gesagt, dass Frühling ist." "Ja, das hat er. Heute ist der meteorologische Frühling. Es gibt auch einen kalendarischen Frühling." Sabine weiß, dass die Worte meteorologisch und kalendarisch ihre Tochter überfordern. Sie nutzt sie trotzdem und hofft, dass fremde Wörter Mia eher neugierig, statt unsicher machen.

"Wir müssen los." Sabine müht sich, nur eine Anweisung nach der anderen zu geben, nicht zu hetzten und nicht laut zu werden. Sie holt frische Socken. Mia zieht sie an. Mia holt ihren Ranzen. Sabine füllt die Brotdose. Mia steckt sie ein. Sabine holt die Jacke. Mia schlüpft in ihre Schuhe. Sabine greift nach dem Schlüssel. Mia zieht sich eine Mütze auf. So arbeiten sie sich vorwärts und trudeln in ihre Alltagsroutine.

Der Moderator im Radio hatte recht. Es schneit. Als Sabine ihre Tochter von der Schule abholt, herrscht ein großes Durcheinander auf dem Hof. Schneebälle fliegen und Ranzen werden zu einem Schutzwall gestapelt. Kinder tollen durch den Schnee oder bauen einen Schneemann. Es ist ein Bild wie aus einem Winter-Wimmelbuch. Nur Mia passt nicht hinein. Wieder einmal. Selbst unter Kindern, die auch Nummern von F80 bis F99 haben, passt sie nicht hinein. Sie hat keine Jacke an und hockt unter einem Strauch. Was macht sie da? Sabine ruft, doch Mia reagiert nicht. Es nützt nichts, Sabine muss zu ihrer Tochter gehen. Sie duckt sich unter den fliegenden Schneebällen und umrundet den Schneemann.

"Was machst du da? Komm! Wieso hast du keine Jacke an?" Mia reagiert nicht. Wie auch, sie stellt zwei Fragen und gibt eine Aufforderung. Sabine beugt sich hinunter und berührt ihre Tochter an der Schulter. "Wieso hast du keine Jacke an?" "Es ist Frühling." Sabine seufzt. "Was machst du da?" "Den Frühling beobachten." Sabine wird ungeduldig. "Nun komm!" "Nein." Sabine ist ungeduldig. "Mama, guck doch mal. Da ist der Frühling."

Es nützt nichts. Man kann Mia nicht drängen, wenn sie von etwas gefesselt ist. Gibt es für dieses Verhalten auch eine Nummer? Ist es nicht eine gute Eigenschaft, wenn man sich nicht ablenken lässt? Sabine fragte die Ärztin und diese meinte, es sei eine abnorme Fixation. Sabine streift ihr Halstuch ab, faltet es auseinander und legt es über Mias Schultern. Durchatmen. Das Gehetztsein wegatmen. Mias Langsamkeit einatmen. "Wo ist der Frühling?" Mia strahlt, streckt ihren Zeigefinger aus und deutet unter den Strauch. "Ich sehe nichts." "Da - haaaa!" Sabine beugt sich tiefer hinab. Ihre Knie berühren den Schnee und sofort spürt sie die Kälte. Wo ist denn Mias Frühling?

"Hiiiiiier!" Mia strahlt. Ihre Finger berühren die kleinen Blütenköpfe, die sich wie drei Flügelchen aufgespannt haben. "Und hier! Hier ist ganz viel Frühling." Die Schneeglöckchen sind nicht höher als vier Zentimeter, aber wie ein Schwarm breiten sie sich unter dem Strauch aus. Dort wo sie wachsen, schmilzt der Schnee. "Ihre Knollen setzen thermische Energie frei", erklärt Sabine. "Ja-ja", sagt Mia und Sabine erkennt ihren eigenen Tonfall wieder, wenn sie ungeduldig ist. "Kann es bimmeln?", fragt Mia. Sabine überlegt, ob sie jetzt etwas über Pollen sagt, die zwischen den hängenden Blüten trocken bleiben, stattdessen: "Es ist ein Glöckchen. Wer würde das Bimmeln hören?" "Die Bienen?" "Ja." "Mama, wie heißt dieser Frühling?" "Meteorologisch." "Das ist ein schweres Wort."

Sabine nickt. Es ist ein schweres Wort. Wieder einmal. Sie greift ihrer Tochter unter den Arm und zieht sie langsam hoch. Arm in Arm gehen sie zum Auto. Inzwischen hat sich das Winter-Wimmelbild aufgelöst. Die Kinder wurden abgeholt. Mutter und Tochter stapfen durch den Schnee und umrunden den Schneemann, der ganz schief steht. "Endlich Frühling", trällert Mia. Sabine lächelt.

Diese Geschichte von Susanne Ospelkaus ist erschienen in einer Anthologie mit "FrühlingsLichtGeschichten " des Brunnen-Verlags.

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