Kunstverein Ebersberg:Variationen mit Tatze

Der Künstler Rudolf Herz geht Marcel Duchamps rätselhafter Zeit in München auf den Grund. Das Ergebnis sind einige neue historische Erkenntnisse und eine Ausstellung mit Porträts von der Straße.

Von Anja Blum

Das ist schon seltsam: Da hat ein Künstler eine Einzelausstellung beim Ebersberger Kunstverein - zeigt aber keine eigenen Werke, sondern die anderer. Wie kann das sein? Warum diese Bescheidenheit? Fest steht: Rudolf Herz, Honorar-Professor an der Münchner Kunstakademie, genießt durchaus internationales Renommee, er muss sich und seine Arbeiten eigentlich nicht verstecken. Es ist vermutlich auch kein Understatement, das ihn zu dieser vermeintlich unpersönlichen Ausstellung inspiriert hat. Vielmehr steckt doch reichlich Herz darin - nur eben auf etwas ungewöhnliche Weise: Die Ausstellung ist Teil eines groß angelegten Projekts, das sich Marcel Duchamp widmet, dem großen französischen Künstler (1887 bis 1968). Herz' Projekt ist eine Kombination aus Recherche, Spekulation und künstlerischer Umsetzung. Der Titel des Ganzen lautet "Le Mystère de Munich".

Dazu muss man wissen: Duchamp verbrachte 1912 aufgrund einer akuten kreativen Krise drei Monate in München - und bezeichnete die Stadt später als den Ort seiner "völligen Befreiung". Klar ist, dass der Aufenthalt einen Wendepunkt in Duchamps Schaffen markiert, er wandelte sich in dieser Zeit vom Kubisten zum Erfinder der Konzeptkunst. Was aber genau in München geschehen ist, war bislang einigermaßen rätselhaft. Ein Geheimnis also, dem Rudolf Herz auf den Grund gehen wollte. "Meine eigenen Wurzeln liegen in der konzeptionellen Kunst, außerdem wohne ich in München und weiß, wo man Informationen bekommt", erklärt er und lächelt. Also folgte der Künstler der Spur des großen Wegbereiters des 20. Jahrhunderts - und förderte tatsächlich so manch neue Erkenntnis zutage.

Kunstverein Ebersberg: Fasziniert vom Sinneswandel Marcel Duchamps, dem großen Wegbereiter des 20. Jahrhunderts: Rudolf Herz recherchiert und spekuliert auf kreative Weise.

Fasziniert vom Sinneswandel Marcel Duchamps, dem großen Wegbereiter des 20. Jahrhunderts: Rudolf Herz recherchiert und spekuliert auf kreative Weise.

(Foto: Christian Endt)

Zum Beispiel gelang es ihm, die Wohnung zu lokalisieren, in der Duchamp damals zur Untermiete wohnte, und zwar in der Barerstraße in Schwabing. Dort lebte ein Ingenieur, ein technischer Zeichner, dessen Biografie Herz ebenfalls nachzeichnen konnte. "Es ist zwar nicht eindeutig belegt, aber höchst wahrscheinlich, dass diese beiden Männer viel Kontakt hatten, denn sie haben auf engstem Raum miteinander gelebt", erklärt er. Und eben darum hält es Herz für naheliegend, dass der Ingenieur den suchenden Künstler dazu inspirierte, einen neuen Weg einzuschlagen - hin zu einer kühlen, technisch-maschinellen Herangehensweise. Duchamp wollte fortan ein Werk schaffen, das keine Kunst ist: ohne künstlerische Gestaltung und damit ohne persönlichen Ausdruck. "Das sollte jene Methode werden, die Duchamp in München für sich entdeckte und nach Paris mitnahm", sagt Herz. Insofern sei diese kleine Wohnung in der Barerstraße "die Wiege der konzeptionellen Kunst".

Duchamps neue Auffassung jedenfalls fand sich alsbald im "Großen Glas" wider, seinem Hauptwerk, und in der Entwicklung der Readymades: bereits fertige, vorgefundene Gegenstände, industriell hergestellt, die allein durch die Auswahl des Künstlers zu einer Art Anti-Kunst werden. Jahre später erklärte Duchamp es so: "Der springende Punkt war, meine Hand zu vergessen." Auf Französisch gibt es einen alten Ausdruck: 'la patte', was den Pinselstrich eines Künstlers, seinen persönlichen Stil, seine 'Tatze' bezeichnet. Duchamp aber wollte loskommen von 'la patte' und "von dieser ganzen retinalen Malerei. Ab 1912 beschloss ich aufzuhören, ein Maler im professionellen Sinne zu sein".

Ein weiteres Detail, auf das Herz bei seinen Recherchen stieß, ist eine Fotografie: Duchamp ließ sich während seines München-Aufenthalts von Heinrich Hoffmann porträtieren. Damit kam er der Bitte um ein Bildnis für ein geplantes Buch über kubistische Malerei nach. Rudolf Herz' These ist nun, dass sich Duchamps Auseinandersetzung mit der "Tatze" bereits in diesem fotografischen Porträt widerspiegelt und dieses so auf die kommende Entwicklung verweist. Duchamp nämlich ließ sich auf eine höchst sterile Art porträtieren: Der 25-Jährige wirkt gelangweilt und blasiert, das erstarrte Gesicht sucht nicht nach Augenkontakt, sondern erscheint seltsam indifferent. Die Aufnahme ist jedenfalls aufs Äußerste reduziert, sie zeigt keinerlei persönlichen Stil und macht nur ein Minimum an Angaben zur Person. "Sie markiert vielleicht so etwas wie einen fotografischen Nullpunkt, bereinigt von allen körpersprachlichen und inszenatorischen Zutaten", so Herz. Damit sei das Porträt jedoch untypisch für damalige Künstlerbildnisse, das zeige der Vergleich mit den anderen Aufnahmen für das Buch über den Kubismus: "Die Kollegen bemühen allesamt malerische Valeurs. Doch davon will Duchamp nichts wissen."

All diese Gedanken und Zusammenhänge fließen nun ein in die Ausstellung in der Alten Brennerei des Ebersberger Kunstvereins: Dort sind 17 Porträtzeichnungen Marcel Duchamps zu sehen. Sie stammen von Straßenmalern auf dem Montmartre, die Herz besuchte, wenn er zu Recherchezwecken nach Paris fuhr. "Ich beauftragte sie, Kopien der Münchner Fotografie von Duchamp anzufertigen, und so entstand allmählich eine Sammlung an Zeichnungen verschiedener Qualität, Technik und Größe." Herz selbst fungiert hier also sozusagen nur als Kurator - doch diese Aufgabe scheint ihm große Freude zu bereiten: "Bei mir im Atelier hängen die Porträts alle direkt nebeneinander an einer Wand", erzählt er, "insofern bin ich sehr glücklich, sie einmal so großzügig präsentiert zu sehen". Und in der Tat, die Ebersberger Hängung ist opulent: Jede Zeichnung hat eine Wand für sich alleine, weshalb auch jede für sich alleine wirken darf. Der Betrachter muss sich diese Installation der Variationen erlaufen. "Außerdem wird er daran gehindert, sofort zu vergleichen, was wir ja sonst immerzu gerne tun", sagt Herz.

Kunstverein Ebersberg: Das Originalfoto von Marcel Duchamps aus dem Jahr 1912.

Das Originalfoto von Marcel Duchamps aus dem Jahr 1912.

(Foto: Christian Endt)

Der Vergleich lockt hier tatsächlich, denn die Zeichnungen sind erstaunlich unterschiedlich - trotz der Nüchternheit der Vorlage, und obwohl Herz ausdrücklich eine "Kopie" derselben bestellt hatte, also eine grafische Reproduktion der Fotografie. Trotzdem weichen die Ergebnisse stark voneinander ab. Die einen Porträts sind mit flottem Strich gezeichnet, manche frei und originell gestaltet, andere höchst akkurat und fein nuanciert. Manche wirken souverän, die nächsten tasten sich förmlich an die Proportionen heran. "Wirklich getroffen hat sie aber keiner", sagt Herz, weist aber sofort darauf hin, dass das hier kein Wettbewerb sei. Der junge Duchamp jedenfalls blickt mal zur Seite, mal in die Augen des Betrachters. Mal lächelt er leicht, mal sieht er aus wie zu Tode betrübt. Mal erscheint er wie ein feinsinnigen Literat, mal wie ein souveräner Geschäftsmann, mal wie ein androgyner Jüngling oder ein Absinth-Konsument im Delirium.

Auch er sei sehr überrascht gewesen, wie unterschiedlich die Persönlichkeitsprofile ausgefallen sind, und welche kulturellen und charakterlichen Mutmaßungen sie provozieren, sagt Herz. "Die Pariser Zeichner fallen regelrecht über Duchamp her und drücken ihm ihre Handschrift auf, eben ihre Tatze." Sie brächten nicht nur sich selbst zur Geltung, sondern individualisierten auch Duchamp auf jeweils ihre Weise. "Indem sie die trockene Ästhetik der Porträtaufnahme auf den Kopf stellen, machen sie diese aber auch in aller Klarheit deutlich."

In der Summe eröffnen die Pariser Porträts ein experimentelles Rollenspiel, für Herz ist die Schau ein ironischer Kommentar. "Vielleicht erscheint die Installation anachronistisch und sophisticated. Vielleicht sollte man sie als paradoxe Intervention verstehen - und nicht nur dies. Als Pingpong zwischen Duchamp, Hoffmann, den Straßenmalern und mir. Zwischen München und Paris, Porträtfotografie und Zeichnung, Reproduktion und Original, Technik und Hand. Zwischen gestern und heute, zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen mir und dem Publikum." Was Duchamp wohl dazu gesagt hätte? Wäre er geschmeichelt gewesen? Verärgert? Belustigt? Schade, dass zumindest dies für immer ein Geheimnis bleiben wird.

"Marcel Duchamp und die Tatze - eine Fotografie aus München, 17 Zeichnungen aus Paris": Ausstellung von Rudolf Herz in der Galerie des Ebersberger Kunstvereins im Klosterbauhof. Eröffnung an diesem Freitag 13. August, um 19 Uhr mit Lyrik nach Duchamp von Julia Wahren; Vortrag von Rudolf Herz am Sonntag, 15. August, um 18 Uhr. Geöffnet Samstag und Sonntag, 14./15. August, jeweils 14 bis 18 Uhr.

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