Museen sind treffliche Orte, um in Kunst aller Art zu schwelgen. Mit einem entscheidenden Nachteil jedoch: meist ist der Schöpfer oder die Schöpferin der Werke nicht anwesend. Dem Betrachter bleibt also nichts anderes übrig, als zu rätseln. Welche Technik wurde hier wohl angewendet? Und worin lag die Inspiration? Welche Botschaft mag sich hinter diesem oder jenem Exponat verbergen?
Anders am kommenden Wochenende vom 11./12. Mai, wenn die Gruppe Kunst-Stoff zum nunmehr zwölften Mal in Anzing, Poing, Markt Schwaben und Parsdorf zum zwanglosen Kunstgenuss einlädt. In offenen Ateliers kann man nicht nur einem breiten Spektrum an zeitgenössischer Kunst begegnen, sondern im Gespräch auch Einblicke in verschiedene Werkprozesse und Kunstkonzepte gewinnen. Und vielleicht auch Anregungen für eigenes künstlerisches Schaffen. Zu sehen sind Werke von fünf Männern und zehn Frauen, drei der Aussteller sind Gäste, das restliche Dutzend gehört zum festen Stamm der Gruppe. Vertreten sind die Bereiche Malerei, Grafik, Fotografie, Bildhauerei und Multimedia.
Im Atelier am Osterfeld in Poing kann man gleich fünf kreativen Menschen begegnen, nämlich Conny Boy, Cornelia Propstmeier, Rosemarie Hingerl, Inge Schmidt und Stefan Pillokat. Boy sagt, sie wolle mit der Malerei eintauchen in eine andere Welt. Für die aktuellen Werke habe sie sich Anregungen "in der wunderbaren Natur geholt. Die Bäume im Frühling, besonders Birken und Weiden mit ihrem zarten, frischen Grün, haben mich sehr fasziniert und auch inspiriert."
Auch Cornelia Propstmeier hat sich mit der Natur und ihrer Vergänglichkeit beschäftigt - allerdings quasi über Bande, habe sie sich doch von der Ausstellung "Metamorphosen" der Fotografin Herlinde Koelbl beeinflussen lassen. "Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Vergänglichkeit findet sich aber auch schon in früheren meiner Werke, jedoch mehr mit Bezug auf Gebäude - denn Lost Places komme ich als Architektin oft sehr nahe."

Alles andere als vernachlässigt wirkt das Poinger Atelier mit seinem kleinen Eingangshof. Dort präsentiert Stefan Pillokat, bekannt auch als Clown Pippo, seine außergewöhnlichen Skulpturen, entstanden mithilfe einer Motorsäge. Warum sein Thema diesmal Holz und Farbe sind, erklärt er so: "Der Zufall brachte den Impuls: eine Holzgarderobe, die ich mit Farbe und Schleifpapier auf alt getrimmt habe, ließ mich auch bei meinen Holzobjekten Farbe dazugeben und sehen, was sich ergibt."

Rosemarie Hingerl wiederum hat sich der "Stille" als Thema verschrieben: "Ich will Ruhe. Wo ist die Stille? Stille ist nicht fassbar. Stille kann beunruhigend sein. Stille kann Angst machen. Stille kann laut sein. Stille kann beruhigender sein als Musik. Stille ist aber auch Kreativität und Inspiration." Diese findet die Malerin in der Natur und am Meer. "Keine Kulisse für Aktivitäten. Einfach nur schauen und fühlen."

Um Gefühle geht es auch bei Inge Schmidt, die beklagt, in ihrer Umgebung "zu viel Traurigkeit und Ängstlichkeit" zu finden - und deswegen mit ihrer Malerei und Bildhauerei gezielt "in das total Unernste" gehen will. Das Ergebnis: "Eine Skulptur aus Schokolade, gespickt mit Süßigkeiten wie Liebesperlen, Gummibärchen oder Lakritzbonbons". Damit, wie auch mit dem in der Kunst-Stoff-Broschüre zitierten Text von Mascha Kaleko "Grundlos vergnügt" wolle sie anregen, der Zeit mit mehr Gelassenheit zu begegnen.

Vier sehr unterschiedliche Künstler teilen sich die Ausstellungsflächen im Anzinger Rathaus: Peter Böhm, Johannes Mayrhofer, Siegfried Horst und Norbert Haberkorn. Letzterer besitzt unter anderem einen langen Atem: Er präsentiert wieder einmal sein Langzeit Foto-Projekt "S2_Life in Transit". Seit 2008 fotografiert Haberkorn zwischen Poing und dem Hauptbahnhof aus dem Zug heraus. Indem er die Belichtungszeit um das 25-fache verlängere, ändere sich dabei "das Erscheinungsbild der äußeren Wirklichkeit". Das Verschwimmen von Personen und Dingen verknüpft er mit den Konfliktherden unserer gegenwärtigen Welt, "die uns permanent mit Bildern fluten, die viele von uns nicht mehr sehen können und wollen; wir wünschen uns nichts mehr als ein Ende, ein zerfließen dieser Leidens-Wirklichkeit."

Durch die Verbindung von "Gedanken mit Materie" möchte Peter Böhm zum Nachdenken anregen - allerdings mit sehr fassbaren Objekten. Der gelernte Schreiner hat sich darauf spezialisiert, Kunst aus "Fundstücken von der Straße und anderem Abfall" herzustellen. Zusätzlich zeigt er "die Umsetzung von Begriffen und Aphorismen auf Stelen und Überblattungen".
Johannes Mayrhofer wiederum geht in seiner Malerei "einen Pakt mit dem Zufall ein". Dieser führe zunächst Regie, wenn mittels besonderer Techniken vorwiegend mit Tusche "reizvolle Chaosstrukturen" erzeugt würden. Nach dem nächsten Schritt, einem Bildkonzept, werde "die kalkulierte Unordnung in mal mehr, mal weniger realistische oder auch surrealistische Bahnen gelenkt. Ein Pingpong zwischen Anarchie und Gesetz auf Leinwand."

Viele Worte über seinen Schaffensprozess verliert Siegfried Horst nicht. Nur so viel: Die Gesichter der Menschen seien "das Spannendste in meinen Arbeiten". Und: "Oft zeichne ich als Erstes die Augen." So erhalten die Porträts des 82-Jährigen eine solche Präsenz, dass die Süddeutsche Zeitung einmal schrieb: "Es ist, als könnten sie sprechen."

Mehr ums Träumen als ums Sprechen geht es im Atelier Pfeiffer in Parsdorf. Dort lassen sich dieses Jahr poetisch anmutende Druckgrafiken von Ulrike Pfeiffer und träumerische Fantasien ihrer Gastkünstlerin Frauke Schreiner besichtigen. Mittels "farbenfroher Bildsprache, Humorvollem und Nachdenklichem" möchten die beiden Künstlerinnen ihr Publikum einladen, "sich berühren zu lassen".
Auch Maria Heller hat sich in ihr Atelier in Markt Schwaben in Rebecca Winhart eine Gastkünstlerin eingeladen - mit ungeahnten Folgen. Durch deren Anregung habe sie zunächst versucht, "mit verschiedenen Tonsorten die Strukturen von Schildkrötenpanzern nachzuempfinden", berichtetet Heller.

Weil dabei aber viele der Keramikstücke sprangen oder zerbrachen, kam es zu Experimenten mit Brüchen und Rissen "als Symbol für Lebensbrüche, für schwierige Umstände, die zur Reflexion anregen und eine Weiterentwicklung in Gang setzen können ". In der Verbindung verschiedener Tonsorten zu etwas Neuem sieht die Traumatherapeutin ebenfalls "eine Parallele zu unserem Leben: das Zusammenleben mit Menschen aus verschiedenen Kulturen. Es kann gelingen, wenn man es sorgsam angeht."

Behutsamkeit braucht auch Natalja Herdt, deren Arbeiten zu einem weltumspannenden Projekt in einem weiteren Atelier in Markt Schwaben zu sehen sind. 102 ihrer Hoffnungsfalter sind bereits unterwegs - von Kapstadt bis Oslo, Cannon Beach bis Sydney. "Während der offenen Ateliers werde ich Videobeiträge zum Projekt und einen Schwarm Hoffnungsfalter und zum ersten Mal auch die Rückmeldungen der Finder:innen der Schmetterlinge zeigen." Zu Gast bei Herdt ist Künstlerin und Bildhauerin Tamara Flade, die eine Auswahl an räumlichen und großflächigen Arbeiten aus unterschiedlichen Materialien präsentiert.
Kunst-Stoff: offene Ateliers am Samstag, 11., und Sonntag, 12. Mai, jeweils von 14 bis 19 Uhr. Anzing, Markt Schwaben, Parsdorf und Poing. Die genauen Standorte finden sich in einer Broschüre, die auf https://kunststoff-art.de zum Download bereitsteht.