Krimi aus Grafing:Bechdel und Wallace wären stolz

Pageturner der Extraklasse: Im neuen Thriller "Die Frau vom Strand" der Autorin Petra Johann wimmelt es nur so von starken Frauen.

Von Michaela Pelz

Eigentlich skandalös, wenn sich im Jahr 2021 ein durch und durch spannender Roman auch dadurch auszeichnet, dass er mit überdurchschnittlich vielen, vielschichtigen Frauen besetzt ist. Sollte es nicht ausschließlich auf gut gezeichnete, glaubhafte Figuren ankommen, die in einem klug durchkomponierten Plot agieren - ganz egal, ob männlich, weiblich oder divers? Sollte es. Tut es auch - dennoch fallen sie auf, und zwar positiv! Diese vielen weiblichen Charaktere in "Die Frau vom Strand", dem neuen Roman der Grafingerin Petra Johann.

Da ist zunächst Ich-Erzählerin Rebecca, die eines kalten Oktobermorgens beim Strandspaziergang mit Babytochter auf eine splitterfasernackte Frau stößt, welche - für die zweite Seite eines Krimis durchaus ungewöhnlich - noch lebendig ist. Und wie! Man möchte fast sagen, dass in dieser Begegnung schon ein Vorgeschmack darauf liegt, was im weiteren Verlauf zu erwarten ist: "...diese Frau sprintete auf Greta und mich zu wie eine hungrige Löwin, die unverhofft eine einsame Antilope entdeckt hat." Fragt man die Grafinger Autorin nach ihrer Inspiration für dieses Setting, erklärt sie, das Bild sei ihr "einfach so in den Kopf gesprungen", als sie überlegte, wie die beiden Frauen möglichst dramatisch aufeinandertreffen könnten. Doch in der kraftvollen und plastischen Szene steckt bei genauerer Betrachtung noch viel mehr, über das es sich im Zusammenhang mit dem berühmten "ersten Eindruck" nachzudenken lohnt: "Es ist doch erstaunlich, wie viel von unserer Persönlichkeit wir durch unsere Kleidung zum Ausdruck bringen ... Nacktheit verwischt die Unterschiede."

Rebecca weiß also zunächst gar nichts über die ungeschminkte Fremde mit den nassen Haaren, als sie dieser zum Bedecken ihrer Blöße eine Spuckwindel reicht - jenes universell einsetzbare Utensil, ohne das Kleinkindeltern nie das Haus verlassen. Doch es bleibt nicht bei diesem einen Kontakt; die beiden Frauen sehen sich jeden Tag, reden stundenlang, offenbaren sich gegenseitig ihr Leben. Die eher schüchterne Rebecca freut sich aufrichtig, nach ihrem Umzug ins beschauliche Ostseebad Rerik endlich Anschluss gefunden zu haben, ist sie doch ziemlich allein, da ihre Ehefrau Lucy die Woche über in Hamburg arbeitet, wo sich das Unternehmen der erfolgreichen Game-Designerin befindet.

Petra Johann Autorin aus Grafing

Expertin für spannende Charaktere und Plots: die Autorin Petra Johann aus Grafing.

(Foto: Ralf Blechschmidt/oh)

Dann der Schock: Zu einem Abendessen, bei dem Lucy die neue Freundin vom Strand, Julia, kennenlernen soll, erscheint diese nicht. Auch danach bleibt sie wie vom Erdboden verschwunden, allerdings ergeben sich schnell Anhaltspunkte, dass die Endzwanzigerin nicht mit offenen Karten gespielt, sondern ganz gezielt Rebeccas Bekanntschaft gesucht hat. Kurze Zeit später liegt dann doch jemand tot am Fuß des Steilufers, unweit des Wassers. Es ist eine Frau...

Die Ermittlungen leitet Kriminalhauptkommissarin Edda Timm, beim Lösen komplizierter Rätsel ein brillanter Kopf, in Sachen Mitarbeiterführung eher weniger. Vor allem den Männern in ihrem Team traut die 43-Jährige oft weniger zu als tatsächlich in deren Möglichkeiten liegt. Ist das alles Absicht und das Buch im Grunde ein feministischer Krimi? "Lustige Frage", sagt Johann, bevor sie ergänzt: "Tatsächlich habe ich zwischendurch einmal überlegt, ein Buch zu schreiben, in dem nur Frauen vorkommen. Das wäre dann aber doch sehr unrealistisch und künstlich." Dezidiert frauenbewegt ist die packende Erzählung rund um Liebe, Leidenschaft und Loyalität also sicher nicht.

Weil es der promovierten Mathematikerin jedoch unglaublich wichtig ist, Frauen, die in der Kriminalliteratur oft nur als Opfer oder Auslöser vorkommen, als "eigenständige, intelligente und handelnde Wesen" in Erscheinung treten zu lassen, hat sie sich dort, wo sie für ihre Figuren eine Wahl hatte, ganz bewusst gesagt: "Nimm mal 'ne Frau!" Das wiederum ist nicht die Norm - weder bei Autorinnen allgemein, noch bei Johann im Speziellen. Die Hauptfiguren in ihren bisherigen Büchern - neben jemand von der Polizei stets eine zweite Person, die als Angehörige, Verdächtige oder Opfer persönlich betroffen ist - waren immer ein Mann und eine Frau.

Krimi aus Grafing: Petra Johann: "Die Frau vom Strand" Rütten & Loening Berlin Klappenbroschur, 458 Seiten, 16,99 Euro

Petra Johann: "Die Frau vom Strand" Rütten & Loening Berlin Klappenbroschur, 458 Seiten, 16,99 Euro

So kommt es, dass man bei der Lektüre von "Die Frau vom Strand", als sich zu den oben bereits genannten Frauen weitere Kolleginnen, Mütter und Zeuginnen hinzugesellen, unwillkürlich an den Bechdel-Wallace-Test denken muss, jene nicht wissenschaftliche, aber in den vergangenen Jahren immer häufiger angewandte Methode, um die Darstellung von Frauen in Filmen auf den Prüfstand zu stellen. Zurück geht sie auf die Idee der damals 25-jährigen Zeichnerin Alison Bechdel, 1985 einer Comicstrip-Figur die Worte ihrer Freundin Liz Wallace in den Mund zu legen. Diese hält, sinngemäß, einen Film nur dann für sehenswert, wenn drei Grundvoraussetzungen erfüllt sind: Es muss mindestens zwei weibliche Rollen geben, die miteinander ein Gespräch führen, in dem es nicht um einen Mann geht. Klingt simpel, hat sich aber als Indikator für Klischee-Alarm tatsächlich bewährt.

"Die Frau am Strand", mit 458 Seiten, die man am Stück verschlingt, weil weder Humor noch Tiefgang und erst recht nicht Spannung zu kurz kommen - neben der sehnsuchtsanregenden Darstellung einer Meerlandschaft, die man viel zu lange nicht gesehen hat -, dieser Roman also ist nicht nur insgesamt hervorragend gelungen, sondern auch Bechdel und Wallace könnten nichts dagegen einwenden. Darauf angesprochen reagiert die Grafinger Autorin sehr erheitert: "Ich überlege gerade, ob das Buch den umgekehrten Test bestehen würde?!" Gemeinsam macht man schnell die Probe aufs Exempel: Es gibt definitiv mehr als einen Kerl - als Polizist, Zeuge oder Verdächtiger. So weit, so gut. Die Männer sprechen miteinander - Punkt zwei ist erfüllt. Allerdings dreht sich der Inhalt ihrer Dialoge um - Frauen. "Geschieht ihnen Recht!", lacht Johann, von der man sich auf jeden Fall Lesungen im Landkreis wünscht, sobald solche Veranstaltungen wieder möglich sind.

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