SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 172:Der Wahrheit auf der Spur

Lesezeit: 2 Min.

Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt - etwa jede vierte Frau erlebt eine solche Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Bei einer Patientin auf der Intensivstation macht sich der Verdacht breit, dass sie eine Betroffene von häuslicher Gewalt ist. Doch die Frau streitet alles ab. Was Pola Gülberg und ihre Kollegen dann unternehmen können.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Nicht immer geht es im Krankenhaus ums Gesundwerden, denn es gibt Fälle, in denen das gar nicht mehr möglich ist. Dann versuchen wir unser Bestes, den ganz individuellen Weg, auf dem sich unser Patient gerade befindet, so angenehm wie möglich zu gestalten – das Leiden zumindest zu lindern. Helfen statt heilen, sozusagen. Aber dann gibt es leider auch Fälle, da können wir im Grunde gar nichts tun, nicht einmal helfen. Die Schweigepflicht macht’s möglich.

Vor einiger Zeit habe ich eine Frau nach einer Operation versorgt. Als sie von ihrer Narkose wieder wach war, fragte ich sie, ob wir jemandem Bescheid geben sollten, dass sie jetzt Besuch empfangen konnte. „Nein, ich will jetzt erstmal niemanden da haben“, sagte sie. Wenig später stand ihr Mann an unserer Anmeldung. Wenn unsere Patienten wach sind, schicken wir nie einfach neue Besucher zu ihnen. Vorher fragen wir die Patienten, ob sie das überhaupt möchten. Die Frau nun verneinte das – sie fühlte sich müde und schwach, hatte Schmerzen, und wollte lieber schlafen.

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Protokoll: Johanna Feckl

Als unser Arzt davon mitbekam, ist er hellhörig geworden: Durch einen Blick in ihre Patientenakte war ihm zuvor aufgefallen, dass sie schon einige Male in unserer Klinik war. Immer waren es Bagatellverletzungen – nach einer Versorgung in der Notaufnahme konnte sie nach Hause gehen. Auch jetzt säumten ihren Körper einige blaue Flecken. Und nun wollte sie ihren Mann nicht sehen, obwohl er doch schon hier war. Konnte es sein, dass unsere Patientin eine Betroffene von häuslicher Gewalt war?

Der Arzt wies uns an, ganz besonders Acht zu geben: Nur wenn sie ausdrücklich zugestimmt hatte, durfte ein Besucher zu ihr – auch, wenn derjenige bereits hier war. Außerdem suchte der Arzt das Gespräch mit ihr: Wollte sie ihren Mann wirklich nicht empfangen, weil sie so kaputt war? Und was hatte es mit den blauen Flecken auf sich?

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Frau hatte für alles eine Erklärung. Dass sie Angst vor ihrem Mann hatte oder er sie schlägt, war keine davon. Vielleicht sagte sie die Wahrheit, gut möglich. Doch Opfer von häuslicher Gewalt stehen unter enormen psychischen Stress, werden oft jahrelang manipuliert: Oft lügen sie und schützen damit den gewalttätigen Partner. Unseren Ärzten jedenfalls waren durch ihre Aussage die Hände gebunden: Sie dürfen Patienten auf Verletzungen ansprechen – aber intervenieren und beispielsweise ohne Zustimmung der betroffenen Person die Polizei informieren dürfen sie nicht. Anders ist das übrigens bei Kindern: Hier sind Ärzte dazu verpflichtet, ihren Verdacht an Polizei und Jugendamt weiterzutragen.

Am nächsten Tag hat meine Patientin ihren Mann zum Besuch empfangen. Bei mir hat das alles ein ganz komisches Gefühl hinterlassen – hatte sie uns wirklich die Wahrheit gesagt?

Redaktioneller Hinweis: Betroffene Frauen von häuslicher Gewalt können sich rund um die Uhr an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden, Telefon 116 016 oder online unter www.hilfetelefon.de.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 40-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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