Süddeutsche Zeitung

Konzertkritik:Anarchie des Blechs

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Sitzen ist nicht: Die "Fanfare Giocárlia" reißt das Publikum im Alten Speicher mit ihrem unerhörten Balkan Brass mit

Von Alexandra Leuthner, Ebersberg

Schon die Ansage der Dame am Kartenverkauf lässt aufhorchen: "Nur die Galerie ist bestuhlt, der Saal ist freigeräumt zum Tanzen." Das klingt nicht nach einem gemütlichen Konzertabend bei einem gepflegten Gläschen Wein. Und das Ebersberger Publikum, das an diesem zweiten Kulturfeuerabend aus dem wunderschön geschmückten Klosterbauhof in den Alten Speicher strömt, wo der Saal also bereitet ist für Fanfare Ciocârlia, ist so unverschämt entspannt, dass man jeden einzelnen von ihnen fragen möchte, was er denn getrunken hat. Aber gut, die Nacht ist karibisch - und wer weiß, welcher Wahnsinn ihn in den folgenden eineinhalb Stunden erwartet, den bringt so leicht nichts mehr aus der Fassung - ausgenommen die Band selbst.

Das Licht geht aus, ein paar Gäste kommen noch von der Bar herein geschlendert, und dann sind sie da. Schwarze Hosen, schwarze Hemden, goldenes Blech in Händen. Und der Wahnsinn beginnt. Die Posaunen und die kleine Pauke sind als erstes auf der Bühne, geben den Rhythmus vor. Dann steht da auf einmal ein kleiner Mann mit dunklen Haaren, feuert das Publikum an, mitzumachen - und der Sturm bricht los. Posaunen und Tuben drehen im Hintergrund melodische Schleifen in tiefen Lagen, während Costica "Cimai" Trifan eine Art Sprechgesang dazu auspackt. Was er sagt, versteht im Saal wohl keiner, die Texte sind auf Rumänisch oder Romanes, der Sprache der Roma verfasst, aber die Töne, die kann hier ein jeder interpretieren. Da hätte es Trifans Ansage am Ende des ersten Songs - "and now machen wir Party" - gar nicht gebraucht. Schon zucken die ersten Füße, fangen Hüften zu schwingen und Fersen zu wippen an.

Und dann legen die zwölf Roma an ihren Blasinstrumenten erst richtig los: Da rasen die Sechzehntel - oder sind es Zweiunddreißigstel? - orientalisch anmutendende Tonleitern hinauf und hinunter, jagen die Tuben die Posaunen, die Trompeten geben Fersengeld. Kann man wirklich ein Blasinstrument dazu bringen, in solcher Geschwindigkeit Töne von sich zu geben? Was Fanfare Ciocârlia hier auf der Bühne veranstalten, ist pure Raserei, melodische Raserei, versteht sich. Nicht umsonst gilt die Gruppe, deren internationale Karriere 1997 begann, als erfolgreichstes Roma-Ensemble Europas.

Ihre Wurzeln haben die Musiker in der rumänischen Folklore, der Sîrba und der Hora, Tanzmusik, die besonders in der Republik Moldau und in Rumänien bekannt ist. Die Bandmitglieder, zwischen Anfang 20 und Anfang 60 sind sie alt, stammen aus Zece Prăjini, einem kleinen Roma-Dorf im Nordosten Rumäniens, wo das Musizieren seit Generationen von den Vätern an die Söhne weitergegeben wird. Weil aber die Hände der Männer von der Feldarbeit rau und grob sind, ist es schwer, Saiten zu greifen, und so musste ihre Wahl auf Trompete, Saxofon, Tuba oder Posaune fallen. Noten gibt es traditionell keine, die Stücke werden mündlich weitergegeben.

Ein deutscher Toningenieur war es, der die Blaskapelle 1996 entdeckte, die bis dahin auf Hochzeiten und Taufen in der Umgebung des Dorfes spielte. Er brachte sie nach Deutschland, organisierte eine Konzerttour. Ein Auftritt bei einem Weltmusikfestival des WDR verhalf dem Ensemble zum Durchbruch. Seither hat die Kapelle - deren Mitbegründer und Bandleader Ioan Ivancea 2005 starb - mehr als 2000 Konzerte in mehr als 70 Ländern gespielt und ist mittlerweile weltweit unterwegs.

Ganz so ursprünglich ist der Balkan Brass inzwischen jedoch nicht mehr, Popmusik wie die rumänische Manele oder auch Jazz haben die Musik beeinflusst - und werden bewusst gepflegt. Das mögen vielleicht die - seltenen - schwachen Momente in einem Konzertabend mit Fanfare Ciocârlia sein, wenn der energische Zweivierteltakt sich mit einem Mal in einen Vier-Viertel-Pop-Rhythmus auflöst, und die Stimme in seichtem Vibrato an die Discoklänge in irgendeiner Hotelanlage an der kroatischen Adria denken lässt. Umso schöner dagegen, wenn sich die Töne des Swing-Klassikers " Summertime" auf einmal aus der pumpenden Anarchie herauskristallisieren, oder das berühmte James-Bond-Thema erkennbar wird.

Allzu lange lässt die Band ihr Publikum ohnehin nicht in Erinnerungen schwelgen, schon legt sie wieder los. Da übernehmen Tuben und Posaunen in schleppendem aber unwiderstehlichem Rhythmus das Kommando, da ergehen sich Trompeten und Saxofon in musikalischen Girlanden, da bricht sich ein Trompetensolo in schwindelnden Tonhöhen Bahn. Die Klarinette nimmt Fahrt auf, das Tempo zieht an, Töne fahren in Beine, Arme werden untergehakt, Paare fassen sich beschwingt um die Hüften.

Was Fanfare Ciocârlia da auf die Bühne des Ebersberger Kulturfeuers zaubern, ist das pure, anarchische Vergnügen. Mal klingt es nach Mariachi, dann wieder nach türkischem Marsch, nach Calexico und im nächsten Moment, in seinen gemächlicheren, schleppenderen Passagen, nach den norwegischen Kaizers Orchestra. Dann wieder schrauben sich die Bläserstimmen in immer neuen, rasenden Melodiekaskaden ganz nach oben, nur um schließlich, angetrieben vom jungen Costel "Gisniaca" Ursu am Schlagzeug, mit Inbrunst übereinander herzufallen. "Born to be wild" singt Trifan schließlich - ja, was denn auch sonst?! Alexandra Leuthner

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Quelle:
SZ vom 21.07.2018
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