Konzert in Grafing:Hautnah dran am Jam

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Ein "Kindheitstraum" wird wahr: In außergewöhnlicher Besetzung präsentieren Martin Zenker und seine Freunde dem Grafinger Publikum eine Hommage an die beiden Jazz-Größen George Shearing and Nancy Wilson. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Martin Zenker and Friends geben beim ersten Liveabend seit Monaten der Initiative "Jazz Grafing" ihren Donnerstagabend zurück. Trotz allen Abstands im Saal der Stadthalle bleibt niemand unberührt

Von Ulrich Pfaffenberger

Es war eine goldene Viertelstunde in der Stadthalle Grafing. Zwei Männer, zwei Kontrabässe standen auf der Bühne und je mehr sie sich "hochjazzten" - lebendiges Beispiel für dieses Wort - desto kraftvoller zuckten die Blitze aus dem dunklen Universum ihrer Instrumente, desto lichter wurde es im Raum, desto mehr strahlten die Gesichter des Publikums. Munguntovch Tsolmonbayar, den alle nur "Tovcho" nennen, und Martin Zenker waren zugange wie zwei antike Halbgötter, die den bösen Zauber wegspielen, der über dem Land liegt, indem sie mit Fingern und Saiten dorthin gingen, wo die Lust am Musizieren dem körperlichen Schmerz nahekommt, und wo Klänge, Rhythmen, Melodien ihre Freiheit gewinnen, die sich auf kein Notenblatt bannen und in keinem Speichermedium einfangen lassen. "Horatio Hieronymus" und "Tobias", zwei Stücke, eine Viertelstunde, weltbewegend.

Es war wieder Jazz in Grafing und es war gut so. Nach zwei Ausflügen ins Digitale erhielt "der letzte Donnerstag" seine Melodie zurück. Nicht, wie seit vielen Jahren üblich, in einer Jam Session, aber so nah dran wie irgend möglich. "Genau wie früher, aber alles ganz anders", sagte Frank Haschler von der Musikerinitiative "Jazz Grafing", vor allem beim Blick auf das distanziert im Saal platzierte Publikum, die kuschelige Turmstube zum Greifen nah, aber doch eine Pandemie entfernt von der Wirklichkeit. Sorgen brauchte Haschler sich aber keine zu machen: Nicht nur beim fulminanten Intermezzo sprangen die Funken über. Während der fast zwei Stunden Konzert verdichtete sich die Atmosphäre im Raum so weit, dass trotz allen Abstands niemand unberührt blieb.

Am meisten freute sich wohl der weitgereiste Kirchseeoner Martin Zenker bei seinem inzwischen traditionellen Juli-Auftritt in Grafing selbst, der sich "einen Kindheitstraum erfüllte": Unter dem Titel "A Tribute to George Shearing and Nancy Wilson" hatte er ein Programm zusammengestellt, dessen Auftakt eine Hommage an das 1960 erschienene Album "The Swingin's Mutual" der beiden Jazz-Größen war. Zusammen mit Studierenden der Hochschule für Musik und Theater München hatte Zenker Arrangements erarbeitet, die nicht nur des Originals würdig waren, sondern in der Ausführung auch hielten, was sie wegen ihrer ungewöhnlichen Besetzung an Abenteuern versprachen. Piano, Bass und Schlagzeug schufen den Raum, in dem sich Trompete, Saxofon, Vibrafon, Gitarre und Gesang austoben durften. Allein schon die zweite Nummer war, nicht nur wegen ihres Titels "The things we did last summer", so voller Sinnlichkeit und Emotion, dass man laut "Freiheit für die Musik" hätte rufen wollen, nur mühsam eingebremst von der Vernunft.

In Stefan Zenker am Tenorsax, später im Wechsel mit Joachim Jann, stießen zum jungen Team zwei erfahrene Musiker aus den Reihen von Jazz Grafing, die zwar das Tempo und die Dynamik führten, wenn ihnen die Aufgabe zufiel, aber den Nachwuchs nicht an die Wand spielten - "guter Ton" seit jeher in Grafing. Wobei sich die jungen Musiker nicht zu verstecken brauchten. Trompeter Nico Weber ist einer, den wir noch oft hören wollen und werden: blitzsauber im Ansatz, fein abwägend in der Melodieführung, zuverlässig im Zuspiel, im "dirty" genauso verlockend wie im "clear". Schlagzeuger Khuslen Baasanbayar ist intelligenter Begleiter und sicherer Rückhalt, nutzt den Besen mit kunstvoller Hand und ließ bei seinem großen Solo das ganze Repertoire des Jazz-Schlagzeugens paradieren, als wäre er eine Bigband für sich. Eine Lektion in Lässigkeit obendrein. Flinke Hände, Mut zum Risiko und einen artistischen Umgang mit Läufen und Skalen ließen Niklas Rehle an der Gitarre und Marco Ullstein am Vibrafon sehen und hören. Sie nutzten die Gunst der Arrangements, um kreative Ideen einzubringen vorbildlich und dürften manchem im Publikum Lust auf Mehr gemacht haben. Etwas, das Theo Kollross am Piano von vorneherein auslöst: Was er als kurzfristiger Einspringer mit sechs Stunden Vorlauf seinen Tasten entlockte, verdient das Prädikat "Extraklasse".

Mit dem passenden klanglichen Kontrast zur Grundfarbe der Band und als muntere Ergänzung zu Sax und Trompete machte Sängerin Amelie Scheffels auf sich aufmerksam. Ja, ihre Stimme hat noch nicht jenen natürlichen Swing und jene ausgebuffte Geschmeidigkeit, die dem Vorbild Nancy Wilson entspräche. Aber was Präzision, Melodieverständnis und Jazztechnik angeht, zeichnet sich hier Vielversprechendes ab. Ungeteilt daher auch der Schlussapplaus im vollen Haus, herzerfrischend und lebhaft. Hätte die amtliche Stoppuhr nicht das Ende verfügt, hätte keiner auf die Uhr geschaut.

© SZ vom 01.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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