Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Wohnraum versus Dorfidylle

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Die Vorwürfe der ARGE Heimatkunde bedürfen einer Einordnung, denn von der Transformation in eine Trabantenstadt ist Grafing weit entfernt

Von Thorsten Rienth

Die Grafinger ARGE Heimatkunde, ein Zusammenschluss aus Hobbyhistorikern mit durchaus professionellem Anstrich, will das Grafinger Wachstum begrenzen. So deutlich formuliert es das Bündnis in seinem "Offenen Brief" an den Stadtrat zwar nicht, aber der Kontext lässt wenig Zweifel: Der "schönen Heimatstadt" mit "ländlichem Charakter" stellt sie - ausgelöst durch "immense Bautätigkeit und Neuansiedlung" - Folgelasten bis hin zu "sozialen Spannungen" gegenüber. Zwar steht die ARGE mit ihrer Sorge nicht alleine da. Doch dieses starke Stilmittel bedarf einer Einordnung.

Zwischen den Jahresenden 2008 und 2018 hatte das Grafinger Bevölkerungswachstum bei knapp neun Prozent gelegen, also bei weniger als ein Prozent im Jahr. Rasantes Wachstum ist etwas anderes. Zum Beispiel die knapp 22 Prozent, mit denen Poing im gleichen Zehnjahreszeitraum wuchs. Von sozialen Spannungen, die tatsächlich welche wären, ist selbst dort nichts bekannt.

Dass in Grafing viel gebaut wird, ist nicht zu übersehen. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass die Stadt gnadenlos neu ansiedelt. Eher ist das Gegenteil der Fall: Das einzige in den vergangenen Jahren neu ausgewiesene größere Baugebiet ist der Aiblinger Anger. Überall sonst bestand längst Baurecht. Logisch, dass Grundstückseigentümer - übrigens oft alteingesessene Grafinger - bei Bodenrichtwerten von an die 1000 Euro die Optionen ziehen. Ohnehin bremsen Stadt und Stadtrat das Wachstum weit mehr, als dass sie es befeuern. Über das alte BayWa-Gelände legten sie zum Beispiel einen Bebauungsplan - um bei Baudichten und -Höhen gewichtige Worte mitreden zu können.

Dass Wohnraum geschaffen wird ist kein Selbstzweck. Die Vorhaben sind einem klaren Bedarf geschuldet. Den schaffen längst nicht zur Zuzügler, sondern gerade auch die Grafinger selbst. Weil ihre Ansprüche an häusliche Geräumigkeit mit steigendem Wohlstandsniveau mitwachsen. Auch das ist ein Trend, über den sich nicht einfach hinwegsehen lässt.

Als vor einigen Wochen Stadtplaner im Rathaus Entwicklungspotenziale skizzierten, warnte einer von ihnen. "Wenn Sie sozusagen einen Stöpsel auf den Zuzug setzen wollen, dann werden Sie es auf der anderen Seite mit wahnsinnig hochschnellenden Immobilienpreisen zu tun bekommen." Dies zu verhindern, muss eine der obersten Aufgaben sozialer Stadtentwicklung sein. Notfalls auch zu Lasten der einen oder anderen Dorfidylle. Von der Transformation in eine Trabantenstadt ist Grafing jedenfalls noch ziemlich weit entfernt.

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Quelle:
SZ vom 31.05.2019
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