Thilo Kopmann erzählt eine Geschichte. Sie handelt von Fischen. Davon, dass in Gewässern immer mehr Weibchen und immer weniger Männchen umherschwimmen. Zwei Drittel zu einem Drittel, so ist das Verhältnis ungefähr. Wasser in Seen und Flüssen enthält nämlich stetig mehr Mengen des weiblichen Sexualhormons Östrogen, und das führt dazu, dass sich bei Männchen die Geschlechtsorgane zurückbilden.
In der Folge wird es immer schwieriger mit der Fortpflanzung. "Alles, was wir weggeben, bekommen wir wieder zurück - wie ein Bumerang", sagt Kopmann. Seit November 2015 ist er der Vorsitzende des Kommunalunternehmens Ver- und Entsorgung (VE) München Ost, das in 13 Gemeinden in den Landkreisen Ebersberg, Erding und München für die Abwasserentsorgung zuständig ist, sieben der Gemeinden versorgt der VE München Ost auch mit Trinkwasser.
Aktuell ist die Kläranlage der VE München Ost auf 135 000 Menschen ausgelegt. Das wird bald schon nicht mehr ausreichen, denn es drängen immer mehr Leute in die Region. Deshalb wird vom kommendem Frühjahr an die Kläranlage für 13 bis 15 Millionen Euro ausgebaut. Danach wird sie bis zu 200 000 Einwohner versorgen können.
Aber zurück zum Bumerangeffekt. Was meint Kopmann damit? Der 59-jährige Diplom-Ingenieur erklärt: Viele Frauen nehmen durch die Einnahme der Antibabypille Östrogenhormone zu sich. In den Ausscheidungen, die dann ins Abwasser gelangen, finden sich Rückstände des Hormons. Kläranlagen schaffen es allerdings bisher nicht, diese Rückstände vollständig herauszufiltern. Also landen sie in den Gewässern.
Männliche und auch weibliche Fische bekommen dadurch erhöhte Östrogenwerte, was dazu führt, dass sich bei den Männchen die Geschlechtsorgane zurückbilden. Ein Riesenproblem für den Artenerhalt. Und ein zweites Problem: Auch Menschen nehmen unbemerkt das einmal ausgeschiedene Östrogen wieder zu sich, indem sie diese Fische dann essen. Der Bumerangeffekt.
Thilo Kopmann schirmt die Augen mit seiner rechten Hand vor der Sonne ab. Er steht vor einem Gebäude der Kläranlage der VE München Ost in Neufinsing. Dort drinnen befinden sich Rechen. Abwasser, das die Kläranlage erreicht, durchläuft diese mechanischen Filter als erstes: Grobe Verschmutzungen wie Wattestäbchen, Tampons oder Feuchttücher werden herausgefiltert wie bei einem Sieb. Die festen Abfallstoffe landen in Containern. Sechs bis sieben Tonnen.
Jede Woche. "Eine der häufigsten Aufgaben hier ist es tatsächlich, feuchte Tücher herauszufischen", sagt Kopmann. Feuchte Tücher, also Erfrischungs- und Abschminktücher oder feuchtes Toilettenpapier, bestehen nämlich aus sehr festen Fasern, so fest, dass sie sich anders als herkömmliches Toilettenpapier in Wasser nicht auflösen.
Grobe Stoffe zu filtern ist also kein Problem - zumindest kein technisches. Auch nicht mineralische wie Fette, die beispielsweise durch das Abspülen einer Bratpfanne ins Abwasser gelangen. Solche Substanzen werden im Sand- und Fettfang abgesondert.
Klar würde es den Arbeitsaufwand verringern, wenn weniger Fett ins Abwasser gelangen würde. Man könnte etwa mit einer Küchenrolle den Großteil des Fettes schon einmal aufsaugen, bevor man mit dem eigentlichen Abspülen beginnt, erklärt Kopmann.
Solche Maßnahmen würden in letzter Konsequenz geringere Kosten für den Verbraucher bedeuten. Aktuell zahlen Kunden der VE München Ost 2,14 Euro pro 1000 Liter Abwasser. Nach dem Sand- und Fettfang folgen weitere Becken, in denen viele Dinge passieren, die mit Chemie, Biologie und Physik zu tun haben: das Vorklärbecken, das Belebungsbecken, das Nachklärbecken.
Die Menge der festen Stoffe, die ins Abwasser gelangen, nehme seit einiger Zeit zwar ab, sagt Kopmann. Trotzdem steigt der Grad der Verschmutzung. Die zwei Schlagworte, die Kopmann hier nennt, lauten Medikamente und Mikroplastik: Es gibt immer mehr Medikamente, um Krankheiten zu behandeln, und immer mehr Menschen, die sie auch einnehmen - und zu Teilen auch wieder ausscheiden.
In den meisten Hygieneprodukten ist Mikroplastik, in Shampoos, Make-up und Cremes
Und indem man sich das Gesicht wäscht oder unter der Dusche steht, gelangen oft kleinste Plastikteilchen durch den Abfluss ins Abwasser. Mikroplastik findet sich in den meisten Hygieneprodukten, in Shampoos und Zahnpastas, in Make-up und Cremes.
Aber auch beim Wäschewaschen gelangt Mikroplastik ins Abwasser. Funktionskleidung etwa enthält Plastikteilchen, damit sie atmungsaktiv und schnelltrocknend ist. Bei jedem Waschgang wäscht man geringe Mengen davon heraus.
Das große Problem mit diesen Rückständen: "Wir können das alles messen, aber es gibt noch keine Technik, um die Stoffe komplett herauszufiltern", erklärt Kopmann. Es gebe zwar sogenannte Aktivkohlefilter, die einen Teil der Überbleibsel selektieren können, aber die Kosten für solche Filter sind siebenstellig.
Außerdem müssten auch die dreckigen Filter irgendwo entsorgt oder gesäubert werden, ergänzt er. Es brauche also neue Techniken, um Medikamentenrückstände und Mikroplastik vom Abwasser zu trennen. Noch gebe es sie nicht.
Der Bumerangeffekt kann also kaum aufgehalten werden: Die Spurenstoffe rutschen durch sämtliche Filter der Kläranlagen hindurch und gelangen über Nahrung und Flüssigkeiten in den menschlichen Organismus zurück. Wie gefährlich ein solcher Kreislauf für den Menschen ist, kann momentan niemand abschätzen. "Wir wissen also noch gar nicht, wohin die Reise geht", sagt Kopmann.
Er weiß aber, dass es sich bei Kläranlagen um Arbeitsbereiche mit großartigen Karrierechancen handelt. Denn die gesamte Branche steht vor der Herausforderung, wie man dieser neuen Form der Verschmutzung begegnen kann. Trotzdem kann Kopmann in jedem Jahr Ausbildungsplätze mangels Bewerbungen nicht besetzen.
Also das Problem einfach aussitzen, bis die Wissenschaft neue Reinigungstechniken entwickelt hat? Der Ingenieur hat eine bessere Idee. Man könne auch jetzt schon etwas tun: "Vermeidung steht an erster Stelle." Für Kopmann ist das ein Aufklärungsthema. Es sei gar nicht so schwer, Mikroplastik und Medikamente im Abwasser zu reduzieren: Etwa kleinere Mengen an Shampoo und Creme verwenden. Rückstände von Salben mit einer Kompresse abtragen, bevor man duscht.