Kirchseeoner Perchten:70 Jahre Grusel und Glück

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Die Kirchseeoner Perchten feiern ihren 70. mit einem großen Spektakel und vielen Gästen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Seit sieben Jahrzehnten gehen in der Marktgemeinde die schauerlichen Gestalten um – das tun sie auch zu ihrem runden Geburtstag und sehr zur Freude des Publikums.

Von Nora Schulte, Kirchseeon

Ohrenbetäubend ist der Lärm in dieser letzten Rauhnacht, jener zwischen dem fünften und dem sechsten Januar. Der Kirchseeoner Marktplatz ist Schauplatz der verwegensten Fratzen, wildesten Tänze und lautesten Glocken geworden, die man sich nur vorstellen kann. Alle versammeln sie sich, singen, schreien, werfen die Beine tanzend, schwebend in die kalte Luft und lassen die Zotteln ihrer bunten Gewänder durch den Nebel fliegen.

Neben diesen mystischen, grauenvollen Figuren mit ihren krummen Nasen, kleinen gelben Augen und spitzen Zähnen in jeglichen Variationen, die so zahlreich in der Dunkelheit stehen, donnert der Klang riesiger Glocken durch die Nacht. Immer wieder knallt ein Böller Richtung Himmel, der eh schon zerrissen wird von Peitschenknall, untermalt von einer Ziehharmonika und wildem Gesang.

Was sich anfühlt wie ein ungestümer Traum, hat in Kirchseeon eine lange Tradition: der Perchtenlauf jährt sich zum 70. Mal, was den Perschtenbund Soj dazu veranlasst, ein großes Spektakel auszurichten. Hinter den Barrikaden warten bereits lange vor Beginn der Veranstaltung zahlreiche Zuschauer, viele von ihnen haben sich mit Bratwurstsemmel, Crêpe oder Glühwein gestärkt, die an den Ständen rundherum zum Verkauf stehen.

Zahlreiche Besucher verfolgen am Marktplatz das Festprogramm: Etwa den Auftritt der Goaßlschnoizer aus Kirchseeon... (Foto: Peter Hinz-Rosin/Photographie Peter Hinz-Rosin)

.. und natürlich der Perchten, der wilden... (Foto: Peter Hinz-Rosin)
... wie auch der schönen Gestalten. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Dargeboten wird unter anderem Jagdhornmusik, aber auch krachender Lärm von Böllerschützen. Goaßlschnalzer peitschen durch die Luft und erzeugen mit dynamischen Bewegungen ihrer Peitschen Geräusche im Takt der begleitenden Ziehharmonika. Wolferinnen und Wolferer haben gigantische Glocken um ihre Hüften geschnallt und kreieren ein dröhnendes Getöse, angeführt von einem Mann mit einem großen Zepter in der Hand, der den Lärm abebben und direkt wieder energisch aufleben lässt.

Die Krönung des Abends sind sicherlich die Perchten, drei Gruppen sind an diesem Abend da. Jede hat ihre individuellen Masken, die meisten selbstgeschnitzt, handbemalt und mit langem pechschwarzem Rosshaar versehen. Sie versetzen das Publikum in eine aufgepeitschte, mystische Stimmung und bewegen sich plump und doch dynamisch durch die Nacht.

„Perchten sind Glücksbringer“, erklärt Wolfgang Uebelacker vom Perschtenbund

Die Rauhnächte, das sind die elf Tage und zwölf Nächte nach der Wintersonnenwende. In dieser Zeit „zwischen den Jahren“, wenn die Sonnenstunden am wenigsten sind, treibt die Menschen die Angst um, es würde nie wieder Licht kommen, sagt Wolfgang Uebelacker, der im Vorstand des Perschtenbund Soj Kirchseeon sitzt. Diesen Kampf zwischen Dunkelheit und Helligkeit, zwischen Winter und Frühling tragen die Perchten aus. Mit Krach, gruseligen Gewändern und ausgelassenen Tänzen wollen sie das dunkle Böse vertreiben. „Perchten sind Glücksbringer“, sagt Uebelacker.

Zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Winter und Frühjahr, steht Frau Percht mit ihren zwei Gesichtern: Einem schaurigen... (Foto: Peter Hinz-Rosin)
... und einem schönen. (Foto: Christian Endt)

Nun treten final die Kirchseeoner Perchten auf und lassen bei ihrem Auftritt nichts aus: Mit Trommeln, Glockenspielen, Fackeln und Kuhglocken ziehen sich durch den Nebel entlang der Menschenmenge und beginnen einen geisterhaften Beschwörungstanz. In ihrer Mitte befindet sich Frau Percht, die das Helle und das Dunkle in einer Doppelmaske vereint. Die Tanzenden wollen böse Geister vertreiben, drehen sich im Kreis, treten vor und zurück und verneigen sich vor Frau Percht. Mit langen Stöcken legen sie Pentagramme, rezitieren Gedichte und laufen immer wieder zu den Zuschauern heran, um Kindergesichter mit Ruß zu beschmieren und Mützen von Köpfen zu klauen. Eine der Masken, das Zwitterwesen „Habergoaß“, halb Stier, halb Ziege, schluckt Münzen, mit denen das Publikum sie füttert.

Die Geschichte der Kirchseeoner Perchten geht bis in das späte 19. Jahrhundert zurück

Begonnen hat all das offiziell im Jahr 1954, eigentlich aber noch viel früher. Die Geschichte der Perchten lässt sich bis in das 19. Jahrhundert, konkret 1889 zurückdatieren. Der Ebersberger Forst war zu dieser Zeit vom Nonnenfalter befallen, dessen Raupen den Wald buchstäblich kahl fraßen. Diese Plage zog Tausende Holzarbeiter aus Süddeutschland sowie dem gesamten Alpenraum in den Landkreis Ebersberg, welche die Schädlinge bekämpfen sollten. In ersten schriftlichen Dokumenten, datiert auf Ende des 19. Jahrhunderts, lässt sich bereits von dem Brauch des sogenannten „Klopfergehens“ lesen, der vermutlich von den angereisten Waldarbeitern in den Landkreis transportiert wurde.

Zu ihrem Jubiläum haben sich die Kirchseeoner Perchten Verstärkung aus der Region geholt: Hier ein Vertretrer der Stoaperchten aus Waging... (Foto: Peter Hinz-Rosin)
... auch die Amperperchten aus Fürstenfeldbruck sind angereist... (Foto: Peter Hinz-Rosin)

... genau wie die Widdersdorfer Wolferer. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Junge Männer, das Gesicht beschmiert mit Ruß oder versteckt hinter einer Maske, liefen mit Ruten und Ketten bewehrt als „wilder Haufen“ durch die Wälder. Sie trugen alte Pelzmäntel, Kartoffelsäcke und Hüte und waren als „Klaubauf“, „Gankerl“ und „Tramperl“ bekannt. Der Name „Kramperl“, auch Krampus, leitet sich vom mittelhochdeutschen „Krampen“, also Kralle, Handwerkzeug oder bairischKrampn“ ab, das für etwas Lebloses, Verdorrtes steht. „Klaubauf“ und „Gangerl“ sind jeweils geläufige Begriffe für das Brauchtum in Österreich. Im Landkreis Ebersberg geriet die beobachtete Tradition der Holzarbeiter, die nahe mit dem Perchtenlauf verwandt ist, während der beiden Weltkriege zunächst in Vergessenheit.

Im Jahr 1954 begründete Hans Reupold den Kirchseeoner Perchtenlauf

Erst Jahrzehnte später erfuhr der Schnitzer, Bildhauer und Heimatkundler Hans Reupold am Stammtisch vom früheren Vorkommen des jahrhundertealten Brauchtums aus dem Alpenraum in Kirchseeon. Ältere Bürgerinnen und Bürger erinnerten sich an Tänze, Sprüche und Lieder, die sie in ihrer Jugend erlebt hatten. Inspiriert von den Überlieferungen initiierte Reupold im Jahr 1954 schließlich den ersten Perchtenlauf in Kirchseeon und implementierte den Brauch neu interpretiert in seiner Heimat.

Bei den Perchten scheint der Nachwuchs gesichert, gut 190 Mitglieder aller Altersgruppen zählt der Verein. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mittlerweile, berichtet Uebelacker, gebe es um die 190 aktive Perchten-Mitglieder. Von jung bis alt und klein bis ganz groß tanzen in dieser Nacht alle gemeinsam über den Marktplatz. Wer im Perschtenbund mitwirkt, kann sich jedoch darüber hinaus in vielerlei Hinsicht einbringen: Schließlich müssen unter anderem Masken geschnitzt und bemalt, Perchtengewänder erstellt und erhalten, Tänze vollführt, Trommeln geschlagen und Lieder gesungen werden. Auch das Vereinsheim und das Maskeum wollen gepflegt und belebt werden.

„Nach 70 Jahren haben wir eine Daseinsberechtigung!“, ruft Uebelacker bei den Festlichkeiten über den Marktplatz und erinnert stolz an die Ernennung des Kirchseeoner Perchtenlaufs zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands. „Wir machen weiter!“, kündigt er an. Das Publikum jubelt.

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