Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Mädchen in Kirchseeon:Erste Klasse in der Fremde

Ohne ihren Vater ist Alona aus Chuguev in der Grund- und Mittelschule Kirchseeon eingeschult worden. Er hat derweil als Einziger einen russischen Raketenangriff auf sein Wohnhaus überlebt.

Von Mohamad Alkhalaf, Kirchseeon

Ein bisschen verloren schaut das kleine Mädchen drein. "Hier könntest du deine Mutter verabschieden", sagt die Lehrerin. Sie hat extra ein blaues Halstuch und einen gelben Pulli zu ihrer Jeans angezogen. Jetzt gibt sie der Kleinen mit Händen und Füßen zu verstehen, dass der Stoff-Eisbär, das Federmäppchen und die Farben, die vor ihr liegen, Geschenke für sie sind. Eltern der anderen Schüler haben sie den Kindern mitgegeben für Alona, zu ihrer Einschulung. Am ersten Schultag darf die Zuckertüte nicht fehlen. Meist ist sie prall gefüllt mit Süßigkeiten, Buntstiften, Heften und Spielzeug.

In der Ukraine, wo Alona herkommt, beginnt das Schuljahr immer am 1. September. Zur Einschulung werden hier auch die Lehrerinnen und Lehrer beschenkt: Die Schulanfänger überreichen ihnen Blumensträuße und erhalten im Gegenzug eine kleine Aufmerksamkeit. Eine Schultüte wie in Deutschland kennen die Kinder in der Ukraine nicht. Einschulung in einem fremden Land mit fremden Traditionen. Vielleicht können die Geschenke ja den Einstieg erleichtern.

In der Ukraine war Alona vor ihrer Flucht noch im Kindergarten

Die D1 der Grund- und Mittelschule Kirchseeon, die Alona besuchen wird, ist eine Integrationsklasse. Sechs Jahre ist das Mädchen alt. In der Ukraine war sie noch sieben Monate im Kindergarten, bevor sie im März mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen ist. Geflüchtet vor Putins Krieg.

Alona spricht Ukrainisch und zeigt mit dem Finger: Das ist mein neues Notizbuch, das ist mein Stift, das ist mein Teddybär, und das sind meine Farben. Auf Deutsch zählt sie die Dinge, die in der Schultasche waren, bis sie bei der Zahl zehn angelangt ist. Sie versucht, schnell mit dem Übersetzer zu sprechen, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.

Sie seien von den Bewohnern Kirchseeons herzlich aufgenommen worden, erzählt ihre Mutter, Alina Davydova, und in der Schule sei es ebenso gewesen, um kurz vor acht Uhr an diesem ersten Morgen. Die Lehrer, die Damen aus der Verwaltung, der Vorstand der Schule, alle seien sie dagewesen. Nur Alonas Vater nicht.

Er ist verletzt, wird noch behandelt, konnte nicht mitkommen. Kurz vor dem ersten Schultag seiner Tochter schlug eine russische Rakete in das Gebäude ein, in dem er mit seiner Familie gewohnt hatte. Während Alonas Mutter in Kirchseeon damit beschäftigt war, Schulmaterial zu kaufen, war der Vater in seiner Heimatstadt Chuguev nahe Charkiw gewesen. Er hatte freiwillig mitgeholfen, den Einwohnern der Stadt Lebensmittel und Medizin aus Charkiw zu bringen.

Eine Rakete schlug im zweiten Stock des Gebäudes ein

Eigentlich hatte er zu Schulbeginn nach Kirchseeon zurückkehren wollen, um seine Tochter zu unterstützen, dann aber kam die russische Rakete. Sie schlug im zweiten Stock des Gebäudes ein, das in Schutt und Asche fiel. Alle, die darin waren, starben. Alonas Vater war der einzige Überlebende.

Jetzt ist er zurück in Kirchseeon, bei seiner Familie, er hatte Glück, auch wenn sie kaum Platz haben in der Wohnung. Sie besteht aus zwei Zimmern, Alona wohnt mit ihren Eltern in dem einem, ihre Tante mit Sohn in dem anderen.

Mohamad Ibrahim, der als Pädagoge arbeitet, weiß um die Bedingungen, in denen die Flüchtlinge leben. "Die ukrainischen Kinder leben oft in sehr engen Wohnungen - sie brauchen Platz, die Schule bietet ihn Raum für ihre Entfaltung", erklärt er. Im bayerischen Unterricht, sagt der Pädagoge, "sollen die Kinder jetzt die Sprache lernen, sich im Präsenz-Unterricht mit anderen Kindern sozial entwickeln und vor allem entfalten können". Die Kinder bräuchten unbedingt eine psychische Pause vom Krieg, sagt Ibrahim. Schule könne einen solchen Raum bieten.

Knapp 1,7 Millionen Schüler sind im Freistaat ins neue Schuljahr gestartet, 30 000 von ihnen kommen aus der Ukraine, die Integration stellt eine Herausforderung dar. Für alle Seiten.

"Als ich zum ersten Mal mit meiner Tochter in die neue Schule ging, war ich besorgt", sagt Alina Davydova . "Wie wird sie wohl mit den anderen Kindern sprechen und sich verstehen?" Sie selbst sei unheimlich aufgewühlt wegen des Krieges. "Wie sehr überträgt sich das auf meine Tochter?"

Ein paar Tage später sieht es für Alona schon ganz gut aus. Sie hat neue Freunde in der Übergangsklasse. Obwohl sie ihre Namen nicht gut kennt, spielt sie mit ihnen auf dem Schulhof und malt mit ihnen die ukrainische Flagge, ihren alten Kindergarten und ihr abgerissenes Haus. Und auch die Lehrerin ist zufrieden, es sei bereits eine Entwicklung zu sehen, berichtet sie. Alona melde sich im Unterricht und schaue nicht mehr nur schüchtern auf den Boden. Mit den deutschen Zahlen, die sie schon kennt, kann sie sich ausdrücken: Mit eins bezeichnet sie sich selbst, mit zwei ihre Mutter, mit drei ihren Vater. Zehn steht für ihre Katze "Luntik". Sie hatte sie auf der Straße gefunden und beschlossen, sich um sie zu kümmern, im Krieg, zu Hause. Einen Monat lebte die Katze mit Alona im Keller, bis Alona und ihre Familie flüchteten. Die Katze ließen sie bei ihren Verwandten zurück.

"Ich vermisse die Katze, den Kindergarten und unser Haus", sagt Alona. Aber sie hat Angst, in die Ukraine zurückzukehren, sie wünscht sich, dass ihre Katze nach Deutschland kommt und mit ihr hier in der Wohnung lebt. Alona weiß noch nicht, dass sie im kommenden Januar mit ihrer Familie die Wohnung verlassen muss und noch kein Zuhause hat.

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