Kirchseeon:Der Prophet aus dem Forst

Am 6. Juni jährt sich zum 50. Mal der Todestag des Germanisten und Wissenschaftlers Friedrich von der Leyen. Seine letzten Jahre verbrachte der Gelehrte in Kirchseeon, wo sich Elmar Kramer vom Heimatkundekreis um sein Andenken kümmert

Von Rita Baedeker, Kirchseeon

"Ältere Kirchseeoner erinnern sich noch an den imposanten Mann mit Bart, der aussah wie ein biblischer Prophet und ihnen oft im Forst beim heutigen Waldfriedhof begegnete", schreibt Elmar Kramer vom Heimatkundekreis Kirchseeon in einem Beitrag zum 50. Todestag von Friedrich von der Leyen am 6. Juni. Leute, die ihn auf dem Weg zum Bahnhof trafen, hätten ihn ehrfürchtig gegrüßt.

Respekt und Staunen erregte der Germanist, Autor und Herausgeber zahlreicher Gedichte- und Märchensammlungen in seiner Gemeinde, viele Kontakte hatte er zu den Kirchseeonern indes nicht. So ist es wohl zu erklären, dass er, obwohl er weltweit hohes Ansehen genoss, in Kirchseeon kaum mehr bekannt ist. "Ich war froh, überhaupt auf seine Geschichte zu stoßen", sagt Elmar Kramer, "in Kirchseeon hat man wohl nie richtig realisiert, welch großartiger Wissenschaftler hier wohnte."

Das Haus, in dem er 1957 bis zu seinem Tod 1966 lebte, liegt von Bäumen und Büschen halb verborgen an der Bundesstraße Richtung München. Vor einigen Jahren hat es in dem Haus gebrannt, seither ist es verfallen und unbewohnbar. Mittlerweile sei es verkauft worden und dürfe nicht mehr betreten werden, berichtet Kramer. An den einst berühmten Bewohner erinnert nur die Grabinschrift von ihm und seiner 1950 gestorbenen Frau Helene, einer Porträtmalerin, am Grab der Tochter auf dem Friedhof in Kirchseeon-Dorf.

Kirchseeon - von der Leyen Haus

Nach einem Brand vor ein paar Jahren ist das ehemalige Wohnhaus der Familie Friedrichs von der Leyen am Spannleitenberg eine Ruine und unbewohnbar geworden.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Intensive Erinnerungen" an den 1873 in Bremen geborenen Friedrich von der Leyen hat jedoch seine Enkelin, die Byzantinistin Anuscha Monchi-Zadeh, die in Mainz lebt. "Er ist bei uns eingezogen, als der Anbau fertiggestellt war und nachdem er seine Tätigkeit als Honorarprofessor an der Uni München aufgegeben hatte." Ein toller Großvater sei er gewesen. Er habe Humor besessen und einen regelmäßigen Tagesablauf geschätzt. "Mein Großvater legte Wert auf einen ordentlichen Weinkeller", erzählt die Enkelin. "Als wir etwa 14, 15 Jahre alt waren, gab es sonntags zum Mittagessen einen altersentsprechend kleinen Schluck für jedes Kind, damit wir, wie er sagte, eine ,Weinzunge' bekämen."

Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, Gorgin Monchi-Zadeh, der in Aßling wohnt, bestätigt das Bild des liebevollen Familienmenschen. "Als er noch in München wohnte und uns am Sonntag besuchen kam, kaufte er immer Schokolade für uns", erzählt er. Mehr aber zähle das geistige Erbe, das er hinterlassen habe: die Liebe zum Buch, zur Märchenliteratur und eine ausgeprägte sprachliche Begabung.

Konservativ sei er halt gewesen, ein Mensch der Kaiserzeit, erinnert sich die Schwester. Obwohl viele Frauen im Familien- und Freundeskreis Akademikerinnen gewesen seien, habe er es nicht sehr geschätzt, wenn Frauen studierten, erzählt sie lachend. Diese Meinung habe er zumindest in seinen 1960 erschienenen "Erinnerungen. Leben und Freiheit der Hochschule" vertreten ". . . Und auf der Hochschule sollte die Erkenntnis um sich greifen, die sich bei den wirklich Studierenden schon durchgesetzt hat, daß die Hochschulen eben Hochschulen bleiben müssen und kein Schauplatz sind für Flirt, Liebeleien und fragwürdige Freundschaften. Wenn es auch viele Frauen ungern hören werden, die Universität ist ihrem Wesen nach eine männliche Institution . . . Wäre es nicht ratsam, eigene Hochschulen für Studentinnen ins Leben zu rufen nach angelsächsischem Vorbild . . . ?" "Man mag ihm zugute halten, dass er beim Abfassen dieser Passagen deutlich die 85 überschritten hatte", kommentiert Anuscha Monchi-Zadeh dieses Zitat.

Germanistik-Vorlesung Friedrich von der Leyens

Der Germanist Friedrich von der Leyen bei einer Vorlesung über altdeutsche Dichtung.

(Foto: Repros: Monchi-Zadeh)

Friedrich von der Leyen studierte in Marburg, Leipzig und Berlin. 1899 hat er sich mit der Schrift "Das Märchen in den Göttersagen der Edda" in Berlin habilitiert. 1920 wurde er an die Uni Köln berufen und wirkte dort am Aufbau des Germanistischen Instituts und der Philologischen Fakultät mit. 1937 wurde er von den Nazis als nicht "linientreu" von seinem Posten suspendiert. Nach dem Krieg kehrte er an die Hochschule zurück, zunächst nach Köln, wohin Konrad Adenauer, mit dem ihn eine "intellektuelle Freundschaft" verband, ihn holte; und 1947 nach München, wo er schon früher als außerordentlicher Professor gewirkt hatte.

In den frühen Jahren 1913 und 1914 sowie 1931 und 1932 hatte er Gastprofessuren in Yale, Stanford und Harvard inne. Schwerpunkt seiner Forschungen war die deutsche und skandinavische Literatur, vor allem in Frühzeit und Mittelalter. Besonders reizten ihn Sagen, Mythen und Märchen. 1909 veröffentlichte er zusammen mit Karl Wolfskehl die ältesten deutschen Dichtungen mit Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen. 1912 begann er, die Reihe "Märchen der Weltliteratur" herauszugeben. Als Schriftsteller verfasste er das dreibändige Werk "Das Buch der Deutschen Dichtung". Von der Leyen war zwar, was auch seine Meinung zum Frauenstudium zeigt, den akademischen Traditionen der Kaiserzeit verpflichtet, besaß aber den weiten Horizont und Geist des Wissenschaftlers. So sammelte er zum Beispiel Märchen aus aller Welt, aus Indien, Italien, Israel und dem Baltikum. Für den Insel-Verlag übersetzte er die Sammlung "Der König der Bettler" aus dem Sanskrit. "Am meisten liebe ich die Märchen aus Tibet und Turkestan; ich habe festgestellt, dass man durch Märchen sehr viel über die Mentalität fremder Länder lernen kann", sagt Anuscha Monchi-Zadeh." Zur Geschichte des Germanisten mit einem so berühmten Namen gehört auch die Frage nach familiären Beziehungen zum Ehemann der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. "Die gibt es tatsächlich", sagt Monchi-Zadeh. "Der Gatte der Ministerin ist so was wie ein Großneffe zweiten Grades meines Großvaters."

Der Germanist Friedrich von der Leyen, 1873 bis 1966, vor seinem Haus in Kirchseeon

Der Wissenschaftler lesend auf einer Bank im Garten seines Kirchseeoner Hauses.

(Foto: privat)

1941 in Potsdam geboren, weiß die Enkelin noch, wie es die Familie nach Kirchseeon verschlug. Die Ehe ihrer Mutter mit ihrem Vater, einem Iraner, zerbrach, kurz nach dem Krieg musste die Familie flüchten. "Dass wir in Kirchseeon landeten, war Zufall", berichtet Monchi-Zadeh. "Wir standen gerade am Ostbahnhof, irgendwer bot uns eine Fahrkarte nach Kirchseeon an", erzählt sie. "Meiner Mutter gefiel der Name, wir fuhren hin - und sind geblieben. In Kirchseeon nannte man uns nur ,die Monchis'". Später heiratete die Mutter ein zweites Mal. Der Mann starb schon 1956.

Elmar Kramer hatte gehofft, den Nachlass vom Dachboden des Hauses, der im Verein für Heimatkunde eine Zeitlang gelagert war, behalten zu dürfen, die Familie aber entschied anders. 2003 veröffentlichte er in der Jahreschronik des Vereins einen Brief von der Leyens aus dem Jahr 1953. Darin schrieb der Wissenschaftler Wehmütig-Lyrisches über München und die barocke "Raumfreudigkeit" der Theatinerkirche: "Da fliegen noch Altdorfer-Engel durch die Luft und der Weihrauch mischt sich mit Salvatordünsten aus dem malzgesättigten Bräuhaus zu einem weltseligen Hymnus. Aber wo sind die Figurinen, die diesen Erdenhimmel bevölkerten?" Die Welt des liebenswerten "Propheten", sie gab es nicht mehr.

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