Kirchenkonzert:Akrobatischer Tanz auf den Saiten

Kirchenkonzert: Momente größter Innigkeit: Der Moskauer Professor Evgeni Finkelstein mit seiner Gitarre in der evangelischen Kirche Grafing.

Momente größter Innigkeit: Der Moskauer Professor Evgeni Finkelstein mit seiner Gitarre in der evangelischen Kirche Grafing.

(Foto: Christian Endt)

Evgeni Finkelstein zelebriert in Grafing die sinnlichen Kräfte seiner Gitarre

Von Ulrich Pfaffenberger, Grafing

Evgeni Finkelstein und seine Gitarre sind eins. Wie er das Instrument beim Applaus vor sich hält, wie er sich beim Verneigen schonend darüber beugt, das ist, als sagte er: "Da, schaut sie an. Ohne sie bin ich nicht." Momente größter Innigkeit sind das, intime Begegnungen mit der Seele eines Künstlers, die einen in noch größerer Kraft umfangen als vorher sein feinfühliges Spiel mit Saiten und Resonanzen. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre man allein mit dem russischen Gitarristen und seiner Musik, an diesem Abend in der Grafinger Auferstehungskirche.

Sein Konzert hatte der Professor an der Staatlichen Hochschule der Künste in Moskau und mehrfache internationale Preisträger von der Papierform her zweigeteilt: in Stücke russischer Komponisten vor der Pause und in Werke des westeuropäischen Barock danach. In der musizierten Wirklichkeit jedoch konnte von einer Teilung keine Rede sein; die zwei Stunden in Grafing waren klassische Gitarrenmusik im Stil Evgeni Finkelsteins. Was nicht bedeuten soll, dass die stilistischen Eigenarten hinter der individuellen Interpretation des Künstlers zurückgestanden hätten; aber sie waren nicht die prägende Kraft.

Zwei Beispiele dafür. Zunächst Sergei Rudnevs Bearbeitungen der beiden russischen Volkslieder "An der Eiche" und "Von Abend bis Mitternacht". Der zeitgenössische Komponist gilt als stilbildend in der modernen russischen Gitarrenmusik, als einer, der es versteht, den alten Traditionen neues Leben einzuhauchen. In Finkelstein hat Rudnev einen überzeugenden Botschafter gefunden, der sich von der Folklore emanzipiert, ohne sie zu entwurzeln. Ob melancholisch oder heiter: Er zupft die Gedanken der Lieder von den Saiten wie Kinder die Kirschen vom Baum, manchmal versonnen, voller Vorfreude einen behutsam nach dem anderen, manchmal in ungezügelter Lust eine ganze Handvoll in schnellem Lauf. Eine Mischung aus verspielter Leichtigkeit und fröhlicher Frechheit, die auch die hundert Jahre älteren Etüden eines Nikolai Alexandrov schier mühelos von allem etüdenhaften befreit und mit Lebenslust erfüllt.

Dann Henry Purcells "Chaconne", ursprünglich für mehrere Streicher gesetzt und von Finkelstein auf eine Gitarre transponiert. Das Ergebnis, beflügelt durch einen mutigen Griff in die Spannungswelt der Saiten, ist voller Kraft und Elan, das vielschichtige, mitunter zweichörige Klangbild sprüht vor Leidenschaft und Entdeckerlust. Das hört sich gar nicht mehr so festlich-jubilierend an, wie Purcell in Aufführungen zu oft daherkommt, sondern strahlt mit der intensiven Kraft einer Ballade, die zugunsten der Gedanken auf Worte verzichtet und in einem stillen Schluss den Hörer in die Aufgabe entlässt, diese Gedanken weiterzuspinnen. Die Verwandlung des Stücks auf die Gitarre lädt es nicht nur mit manueller Energie auf, sondern auch mit einer Wärme, die den ganzen Kirchenraum erfüllt.

Auf ähnliche Weise berührend zeigen sich die zwei Stücke des Franzosen Marin Marais, beide ursprünglich für Gambe geschrieben und nun vom Solisten der nachgeborenen Gitarre zugewidmet. Einer der Titel, "Die menschliche Stimme", erweist sich dabei als programmatisch für das Verständnis des russischen Musikers für sein Instrument und die Art, wie er es spielt: Evgeni Finkelstein spricht mit uns Zuhörern über die Bewegung seiner Hände und die Kraft seiner Fingerspitzen. Es ist wie bei einem Spaziergang, bei dem die Bewegung durch die Landschaft deren Wirkung äußerlich wie innerlich überträgt und dessen Impressionen nachwirken, auch wenn wir längst woanders angelangt sind.

Dies alles kommt so ungekünstelt und leicht daher, dass es großer Aufmerksamkeit bedarf, die Spielkunst Finkelsteins überhaupt zu erkennen. Da braucht es dann schon die erste Zugabe, in der er aus der Programmatik des Abends genauso ausbricht wie aus dessen tänzerisch-liedhaftem Grundton. Denn das "Presto" aus der Suite "Koyunbaba" von Carlo Domeniconi ist ein Paradebeispiel für versierte Technik in Verbindung mit blinder Vertrautheit mit dem Instrument. Wie bei jedem Stück bewegt sich der Solist auswendig, mit der Souveränität und Sicherheit eines Hochseilakrobaten über die sechs Saiten seiner Gitarre, entlockt ihr dabei irreal schöne Töne und flirrende Akkorde - und dem Publikum - nach einem Aufstöhnen der gelösten Spannung - einen von Faszination getragenen, lang anhaltenden Applaus.

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