Süddeutsche Zeitung

Amtsgericht Ebersberg:"Sowas habe ich in 20 Jahren nicht erlebt"

Ein 22-Jähriger muss sich wegen mehrerer Gewaltdelikte vor dem Ebersberger Amtsgericht verantworten. Seine Freunde feiern ihn dafür, vor einer saftigen Strafe schützt ihn das aber nicht.

Von Ulli Kuhn, Ebersberg

Da der Angeklagte momentan wegen einer anderen Strafsache in der Justizvollzugsanstalt München Stadelheim sitzt, wird er von zwei Polizeibeamten in Fußfesseln zu seinem Termin in Ebersberg eskortiert. Vor dem Gerichtsgebäude empfangen ihn bereits seine Freunde und jubeln dem 22-Jährigen zu. Für diesen steht an dem Tag viel auf dem Spiel, denn die Liste der ihm zur Last gelegten Delikte ist lang. Neben Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ist er auch in mehreren Fällen von Körperverletzung, Sachbeschädigung, Bedrohung mit einem Messer und dutzendfachem Schwarzfahrens in S- und U-Bahnen angeklagt.

Zur jeweiligen Tatzeit fast aller seiner Delikte soll der Angeklagte stark alkoholisiert gewesen sein. Er habe zu dieser Zeit etwa zehn Bier am Tag getrunken, sagt der junge Mann, der im nördlichen Landkreis Ebersberg wohnt. Auch mit Drogen kam er schon früh in Berührung. Bereits mit 15 habe er angefangen Marihuana und Amphetamine zu konsumieren.

Der Richter droht damit, die Zuschauer aus dem Sitzungssaal zu werfen

Schon kurz nach Beginn der Verhandlung zeigt sich der Angeklagte geständig. In den nächsten drei Stunden geht es also vor allem darum, dass die Zeugen ihre Sicht der Dinge schildern. Als die Staatsanwältin minutenlang die Anklageschrift verliest, fangen die Freunde des Angeklagten auf der Zuschauerbank an zu lachen. Richter Frank Gellhaus ermahnt die drei Männer und die Frau im Publikum eindringlich, sich zu mäßigen und droht ihnen mit dem Rauswurf aus dem Sitzungssaal.

Auslöser für den Lacher war die Verlesung des Snapchat-Namens des Angeklagten. In dem konkreten Fall postete dieser ein Video auf der Social-Media-Plattform, auf dem er Polizeibeamten den Mittelfinger zeigt und andere beleidigt. Auch in einem anderen Fall, filmte er seine Tat: Als er am Saint-Patrick's-Day in einer Münchner S-Bahn scheinbar grundlos zwei Studenten durch Schläge und Tritte verletzt, kommt er kurze Zeit später wieder, filmt seine Opfer und fordert eine Entschuldigung - wofür, das weiß niemand. Einer der Geschädigten wird an der Nase und unter dem Auge verletzt - dort hat er auch heute, ein Jahr später, noch eine sichtbare Narbe. Nachdem die Beteiligten des Gerichts Screenshots einer der Überwachungskameras der S-Bahn gesichtet haben, nimmt der Angeklagte eines der Bilder vom Tisch, zeigt es seinen Freunden und grinst ihnen zu.

In einem anderen Fall geriet der 22-Jährige mit einem Ordner während der Münchner Blade-Night aneinander, den er schließlich ohne ersichtlichen Grund zu Boden schubste. Der Mann schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. "Hätte der Ordner keinen Helm getragen, hätte das auch ganz anders ausgehen können", sagt der Richter. In einem weiteren Fall traf sich der Angeklagte im Jahr 2021 entgegen der damals geltenden Infektionsschutzbestimmungen mit seinen Freunden in einem Park zum Trinken. Als er daraufhin von der Polizei kontrolliert wird, zeigt er sich aggressiv und muss schließlich sogar fixiert werden. Einen der Polizisten verletzt er dabei an der Hand.

"Seine Sozialprognose sieht sehr schlecht aus", sagt der Jugendgerichtshelfer

Der Jugendgerichtshelfer sieht viele Brüche in der Biographie des Angeklagten. Seine Eltern hätten sich früh getrennt und ihn schließlich, nach dem sie nicht mit ihm fertig wurden, vor die Tür gesetzt. Danach sei er eine Zeit lang obdachlos gewesen. Eine Wohnung und den Job, den er zwischenzeitlich hatte, habe er durch seine Inhaftierung vor einigen Monaten wieder verloren. Weder Staatsanwältin noch Jugendgerichtshilfe halten deshalb eine Bewährungsstrafe für eine gute Idee. "Seine Sozialprognose sieht sehr schlecht aus", sagt der Jugendgerichtshelfer. "Wenn er sein Alkoholproblem und seine Neigung zur Gewalt nicht in den Griff bekommt, müssen wir auch in Zukunft mit weiteren Straftaten rechnen."

Richter Frank Gellhaus schließt sich dieser Einschätzung an und verurteilt den 22-Jährigen zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sieben Monate. Aufgrund der auch vor Gericht sichtbar fehlenden Reife des Angeklagten wird trotz seines Alters aber noch das Jugendstrafrecht angewendet. Auch von einer Geldstrafe sieht das Gericht aufgrund der Schulden des Angeklagten ab. Wie hoch diese sind, weiß nichtmal er selbst. "Ich habe einige Schulden wegen der Schwarzfahrerei und Krankenwageneinsätzen, so genau weiß ich das nicht", sagt er. Angesichts der 46 Vorstrafen, die der Mann in seinem jungen Alter bereits angesammelt habe, sei keine geringere Strafe möglich, so Richter Gellhaus. "Sowas habe ich in 20 Jahren als Staatsanwalt und Richter noch nicht erlebt", sagt er. "Das ist nicht beeindruckend, sondern erschreckend."

Dem hat sogar der Rechtsanwalt wenig entgegenzusetzen. "Mein Mandat hat sich sowieso noch in einer anderen Sache zu verantworten, aus dem Gefängnis kommt er ohnehin so schnell nicht raus." Als der 22-Jährige wieder zum Gefängnis-Transporter eskortiert wird, jubeln ihm seine Freunde zu, filmen die Szene mit ihren Handys und grölen lautstark.

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