Inklusion:In Steinhöring produzieren Menschen mit Behinderung für 40 regionale Firmen

Inklusion: Geschickte Hände statt Maschinen: Die Beschäftigten in den Steinhöringer Werkstätten haben viel Freude bei der Arbeit und sind stolz auf ihre Produkte.

Geschickte Hände statt Maschinen: Die Beschäftigten in den Steinhöringer Werkstätten haben viel Freude bei der Arbeit und sind stolz auf ihre Produkte.

(Foto: Einrichtungsverbund Steinhöring)

Autohändler oder auch Krankenhäuser werden aus Steinhöring beliefert. Ein Besuch in den Werkstätten.

Von Andreas Junkmann, Steinhöring

Matthias zieht langsam den Klebestreifen ab. Der nächste Handgriff muss sitzen. Einen zweiten Versuch gibt es nicht. Für den jungen Mann, der da an der Werkbank arbeitet, ist das kein Problem. Routiniert setzt er das Magnetband millimetergenau an die dafür vorgesehene Stelle. Dann ist das nächste an der Reihe.

Matthias bestückt Ausstellungsdisplays für Autohändler und ist einer von 428 Beschäftigten in den Werkstätten des Einrichtungsverbunds Steinhöring (EVS). Wie seine Kollegen, hat auch er eine geistige Beeinträchtigung. Doch das hindert keinen von ihnen daran, sehr spezifische und teils sogar komplexe Aufgaben zu übernehmen. Genau das sei auch das Konzept des EVS, sagt Einrichtungsleiter Thomas Breuer. "Das ist keine Beschäftigungstherapie. Wir stellen nur Sachen her, die der Markt auch braucht."

Es gibt 21 Berufsbereiche, von Landschaftsbau bis Datenverarbeitung

Und wie viele das sind, wird bei einem Rundgang durch den Werkstattstandort in Steinhöring - einem von vier, neben Ebersberg, Eglharting und Fendsbach - deutlich. In einem Raum stapeln sich etwa gelbe Plastikkisten voller Besteck. Mehrere Mitarbeiter verpacken die Gabeln, Messer und Löffel sorgfältig in Papiertüten, die später an ein Krankenhaus gehen.

Ein kurzer Blick zum Nachbartisch zeigt, welch eine Arbeits- und Produktvielfalt sich in den Werkstätten bündelt. Dort werden gerade Halterungen für Infrarotlampen überprüft, die direkt aus China nach Steinhöring geliefert wurden. "Wir übernehmen hier für Firmen die komplette Qualitätskontrolle", sagt Breuer.

Während hier vor allem Geschick und Präzision gefragt sind, kann es in den Holzwerkstätten oder bei der Metallverarbeitung durchaus etwas rustikaler und lauter zugehen. "Die Leute lieben es, wenn sie an den großen Maschinen arbeiten dürfen", erzählt der Einrichtungsleiter neben einer Lötanlage stehend, an der zwei junge Männer sitzen. Einer von ihnen legt nach und nach kleine Blechverschlüsse auf ein Förderband, der andere stülpt darauf dünne Stäbchen mit Lötstiften darin.

Die fertigen Deckel kommen später auf Dosen mit Flickmasse für Autoreifen. Die Werkstätten wirken wie eine Wohngemeinschaft von verschiedensten Berufen. Hinter jeder Tür steckt eine andere Spezialabteilung.

Insgesamt 21 Disziplinen sind unter dem Dach des EVS, der seit 1971 Menschen mit Behinderung fördert und durch den Alltag begleitet, beheimatet. Das geht vom Landschaftsbau, über Lackiererei bis hin zur Datenverarbeitung und Archivierung. "Wir versuchen hier ein möglichst breites Spektrum anzubieten", sagt Thomas Breuer. So sei für jeden etwas dabei. Auch die Liste der Kunden ist vielfältig - und prominent besetzt.

Inklusion: Die Werkstätten wirken wie eine Wohngemeinschaft von verschiedensten Berufen. Hinter jeder Tür steckt eine andere Spezialabteilung.

Die Werkstätten wirken wie eine Wohngemeinschaft von verschiedensten Berufen. Hinter jeder Tür steckt eine andere Spezialabteilung.

(Foto: Einrichtungsverbund Steinhöring)

Dazu zählen unter anderem Firmen aus der Automobilindustrie oder auch große Warenhäuser. Man versuche immer möglichst langfristige Aufträge zu bekommen. "Dann kann man den Leuten vorher eine vernünftige Einführung geben und so das Arbeiten erleichtern", so Breuer. Das Schlimmste sei, wenn es mal gerade nichts zu tun gibt. "Alle sind mit einer solchen Begeisterung bei der Sache, die würden sogar nachts arbeiten, wenn die Werkstatt offen hätte."

Bei ihrer Arbeit sind die Beschäftigten in kleinen Gruppen aufgeteilt und werden von einem Meister mit pädagogischer Zusatzausbildung beaufsichtigt. Über allem steht aber der Gemeinschaftsgedanke. "Hier ziehen alle an einem Strang", sagt Angela Sanftl, die beim EVS im Sozialen Dienst tätig ist. Es sei deshalb möglich, auch in andere Arbeitsbereiche reinzuschnuppern - natürlich nur soweit es die Fähigkeiten zulassen.

Inklusion: In der Übergangsgruppe geht es ums Lernen von Arbeits-Strukturen durch einfache Tätigkeiten, wie die Herstellung von Ofenanzündern.

In der Übergangsgruppe geht es ums Lernen von Arbeits-Strukturen durch einfache Tätigkeiten, wie die Herstellung von Ofenanzündern.

(Foto: Christian Endt)

"Die Wirtschaft kann von uns lernen", ist EinrichtungsleiterThomas Breuer überzeugt

In Steinhöring treffen Menschen unterschiedlichster psychischer und physischer Verfassung aufeinander. Diejenigen mit besonders hohem Unterstützungsbedarf arbeiten in der sogenannten Übergangsgruppe. "Hier steht nicht die Produktion im Vordergrund", erklärt Sanftl. Noch mehr als in den anderen Werkstattbereichen wird dort mit Bildern und Symbolen gearbeitet, um die Menschen durch ihren Arbeitsalltag zu leiten.

"Strukturen sind den Leuten sehr wichtig", so Sanftl. "Dadurch bekommen sie Sicherheit." In der Übergangsgruppe binden sie heute dünne Altholzstifte zu kleinen Päckchen zusammen, die später als Ofenanzünder verkauft werden. An der Wand hängt ein Adventskalender mit großen bunten Päckchen. Auch den haben sie hier selber gebastelt.

Da im EVS nicht nur Menschen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten arbeiten, sondern auch die Tätigkeiten als solche sehr spezifisch sind, gibt es in Steinhöring eine Art Werkstatt-Labor. Hier werden Werkzeuge und Apparaturen entworfen und gebaut, die den Beschäftigten das Arbeiten erleichtern sollen. Die Sonderanfertigungen reichen von einfachen Schablonen zum Anbringen von Aufklebern, bis hin zu schweren Stanzapparaten, die es so nirgends zu kaufen gibt.

Man merkt beim Rundgang durch die Werkstätten, wie stolz die Menschen auf das sind, was sie herstellen. "Deshalb wünschen wir uns, dass die Beschäftigten mindestens einmal sehen, wo ihr Produkt zum Einsatz kommt", sagt Einrichtungsleiter Breuer. Das würde die Motivation und das Selbstwertgefühl unglaublich steigern.

Kooperation mit 40 regionalen Betrieben

Darum sind sie in Steinhöring auch immer dankbar über Aufträge aus der Region, bei denen man sich das Ergebnis der Arbeit danach auch vor Ort ansehen kann. Bereits jetzt kooperiert der EVS mit mehr als 40 regionalen Betrieben. Einige der Firmen beschäftigen auch Personen aus den Werkstätten auf Außenarbeitsplätzen, mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung auch in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren.

Und dann gibt es da auch noch die Eigenprodukte, von denen im EVS gleich ein ganzer Katalog produziert wird. Im Flur der Werkstätten steht ein Glasschaukasten, in dem zahlreiche Büroaccessoires wie Tacker, Brieföffner, Lineale oder Holzetuis ausgestellt sind. "Unser Renner ist aber der Klebefilmabroller, der aussieht wie eine Schnecke", erklärt Marketingleiterin Heike Rechl. Wie alle anderen Produkte in der Vitrine, wird auch dieser komplett in Steinhöring hergestellt.

Und mit welcher Begeisterung die Leute bei der Sache sind, zeigt sich zwei Stockwerke tiefer in der Holzwerkstatt. Dort stapeln sich die Paletten mit den Holzschnecken. "Das hier sind die Kinder. Es gibt aber auch noch Mama-Schnecke und Papa-Schnecke", erklärt einer der Mitarbeiter stolz. Was er meint, sind die größeren Abroller für Paketbänder. Alle Eigenprodukte werden vom EVS auch selbständig vertrieben, etwa im Werkstattladen in Steinhöring oder in der Speisekammer in Ebersberg.

Bei all der Vielfalt und Spezialisierung steht im Einrichtungsverbund Steinhöring immer noch der Mensch im Mittelpunkt. Die Beschäftigten hier sollen spüren, dass sie wichtig sind und gebraucht werden, sagt Thomas Breuer. Das Zusammenspiel aus sozialer Verantwortung den Mitarbeitern gegenüber und wirtschaftlicher Produktion sei dem Einrichtungsleiter zufolge in den Werkstätten einmalig, weshalb er sagt: "Nicht wir können von der Wirtschaft lernen, sondern die Wirtschaft kann etwas von uns lernen."

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