Inklusion:"Ich wünsche dir ein Wohnmobil"

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Bei der Gründung des Kirchseeoner Gymnasiums war die Kooperation mit einer Förderschule unbekanntes Terrain. Längst erfrischen die Kinder der Partnerklasse den Unterrichtsalltag. Dafür erhielt die Schule das Profil "Inklusion"

Von Franziska Langhammer, Kirchseeon

Ruide lässt sich nicht umstimmen. "Das ist gefährlich", sagt er, wagt noch einen kurzen Blick über seinen Zeichenblock und schaut dann doch lieber wieder weg. Das Bild, das seine Tischnachbarin gemalt hat, ist ihm nicht ganz geheuer. In schwarzer Farbe ranken sich Schlangen und Linien auf dem sonst weißen Blatt Papier. "Was ist gefährlich?", fragt Felix Rutkowski, der Kunstlehrer, "findest du das Bild ein bisschen gruselig?" Ruide nickt und beharrt: "Das ist gefährlich." Kommentarlos packt seine Tischnachbarin ihre Zeichnung weg und macht sich stattdessen daran, ihr Kunstheft zu verschönern. Und während alle anderen Schülerinnen und Schüler weiter an ihren Schwarz-Weiß-Bildern arbeiten, drapiert Ruide einen Clown über das kunterbunte Zirkuszelt, an dem er gerade malt.

Die Kinder der Klasse 7e im Gymnasium Kirchseeon kennen sich inzwischen aus mit Ruides Eigenheiten. Er ist ein bisschen jünger als alle anderen hier und gehört zur Partnerklasse, die im Raum nebenan ihr Schulzimmer hat. Acht Kinder der Korbinianschule aus Steinhöring besuchen die Partnerklasse, sieben Jungs und ein Mädchen mit geistiger Behinderung. Partnerklasse bedeutet unter anderem: Einmal in der Woche nimmt Ruide am Kunstunterricht der Gymnasiasten teil.

Die Schüler basteln gemeinsam Teelicht-Lampen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mit seiner forschen und charmanten Art lockert er die Stimmung auf; die Kinder freuen sich, wenn er bei ihnen vorbei schaut. Immer wieder steht Ruide auf, spaziert durch das Klassenzimmer, inspiziert hier ein Federmäppchen und fragt dort die Mädchen: "Habt ihr noch Schokolade?" Dass die Mädchen alle Süßigkeiten schon aufgegessen haben, will Ruide ihnen nicht so recht glauben.

"Manchmal ist er schon ein Schmarrnkopf", sagt seine Tischnachbarin über ihn. Sie ist seine Flausen gewohnt. Als er beispielsweise ihre Filzstifte einkassiert, sagt sie ruhig: "Ruide, die gehören mir." Ruide: "Warum?" "Weil ich sie gekauft habe." Schließlich gibt er ihr die Stifte zurück.

Kunstlehrer Rutkowski nimmt sich zwischendurch mehrmals Zeit, um sich zu Ruide zu setzen und mit ihm die weitere Gestaltung seines Zirkusbildes zu besprechen. "Das geht hier im lockeren Unterricht", sagt er, "schwieriger wird es, wenn ich Stoff durchnehme, bei dem sich die anderen Schüler konzentrieren müssen". Klaus Hagenberger, seit August Schulleiter der Korbinianschule, beschreibt das so: "Die musischen Fächer sind die Türöffner." Dort könne man die Einzelbegabungen der Schüler mit Behinderung im künstlerischen Bereich fördern; denn: Nicht die intellektuelle Leistung stehe hier im Vordergrund, sondern das gefühlvolle Sich-Ausdrücken.

Im Wahlfach "Gemeinsam" arbeiten behinderte und nicht behinderte Kinder miteinander. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Partnerklasse bedeutet auch, dass Kinder aus beiden Schulen zusammen den Wahlunterricht besuchen. Zu Beginn des Fachs "Gemeinsam" sitzen 16 Kinder mit und ohne Behinderung im Stuhlkreis zusammen, manche der Gymnasiasten kommen aus der fünften, manche aus der neunten Klasse. Neben der Klassleiterin Christine Mirwald sind noch eine Individualbegleiterin, eine pädagogische Assistentin und eine weitere Lehrkraft anwesend. Es ist mucksmäuschenstill, als Christine Mirwald alle begrüßt und bekannt gibt, dass ein Geburtstagskind mit im Kreis sitzt: Josi aus der 5c wird heute zehn Jahre alt. Nachdem ihr ein "Happy birthday" gesungen worden ist, stehen reihum alle Kinder auf, schütteln Josi die Hand und gratulieren ihr. Die Glückwünsche kommen von Herzen. "Ich wünsche dir viel Sonnenschein", sagt etwa Chris. Ein anderer Junge aus der Partnerklasse hält Josis Hand und zögert: "Ich wünsche dir ..." Gespannte Stille herrscht, Josi wartet geduldig. Der Junge schüttelt weiter ihre Hand, holt schließlich tief Luft und sagt: "Ich wünsche dir ein Wohnmobil", bevor er sich schnell wieder hinsetzt. Eine Lehrkraft stutzt kurz, aber den anderen Kindern scheint der ausgefallene Wunsch nicht weiter aufzufallen. Die Stimmung ist sowieso heiter, es wird viel gelacht.

Der Wahlunterricht schafft Platz für ein Miteinander außerhalb des regulären Unterrichts; es kommt hier nicht auf Leistung an, sondern auf die zwischenmenschliche Begegnung. Während andere Gymnasiasten im Wahlfach Schach spielen oder Geigenstunden nehmen, werkeln hier Kinder aus Partnerklasse und Gymnasium zusammen im Schulgarten oder singen Lieder. "In den ersten ein, zwei Stunden gibt es Unsicherheiten auf Seiten der Gymnasiasten: Wie soll ich mich verhalten?", erzählt Lehrerin Mirwald, "ich muss ihnen manchmal erklären: Ihr dürft auch nein sagen; etwa, wenn ein Schüler zu übermütig ist."

Bei kreativen Aufgaben wie dem Basteln eines Herbstlichtes ergänzen sich die Schüler. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

An diesem Tag steht das Basteln von Herbstlichtern auf dem Programm. Dazu kleben die Schüler und Schülerinnen gepresste Laubblätter auf die Außenseiten von Einmachgläsern. Yannic aus der Partnerklasse etwa weiß genau, mit wem er basteln will: "Annabel!", ruft er und pfeift nach ihr. Josi diskutiert mit Simone, dem einzigen Mädchen in der Partnerklasse, wer das gemeinsam gebastelte Herbstlicht mit nach Hause nehmen darf. "Es ist einfach anders hier", sagt Josi auf die Frage, was ihr am Wahlfach gefällt, "ein anderer Unterricht, auch mit anderen Leuten". Auch Simone genießt das Zusammensein mit den anderen: "Ich finde es total nett hier." Viele Gymnasiasten, die sich für das Wahlfach "Gemeinsam" entscheiden, kennen durch die Familie oder den Freundeskreis jemanden mit Behinderung und sind so schon sensibilisiert für das Thema Inklusion.

Dass Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam den Unterricht einer weiterführenden Schule besuchen können, ist Ergebnis einer relativ jungen Erfolgsgeschichte. Im Jahr der Gründung des Gymnasiums Kirchseeon 2008, erzählt Margarete Barthelmes, Koordinatorin der Partnerklasse am Gymnasium, hätte es kein Konzept und keine Vergleichswerte gegeben, auf die man hätte zurückgreifen können. Mittlerweile haben sich sieben Säulen herauskristallisiert, auf denen das Konzept der Kirchseeoner Inklusion basiert (Infokasten). Die größte Herausforderung stellten momentan die Gebäude dar, so Barthelmes: "Wir haben zu wenig Platz." Wenn Partnerklasse und eine Gymnasialklasse bei Projekten in einem Klassenzimmer aufeinander träfen, herrsche "drangvolle Enge".

Christine Mirwald leitet die Partnerklasse. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Grenzen erfährt das Konzept, sobald der Leistungsdruck gemäß des gymnasialen Lehrplans anzieht und der Zeitrahmen in höheren Jahrgangsstufen immer mehr Einschränkungen erfährt. "Nach der Unterstufe geht die Schere immer weiter auseinander", sagt Margarete Barthelmes. Sobald es um Leistungspunkte und geballte Theorievermittlung geht, ist es schwierig, eine gemeinsame Unterrichtsbasis für Kinder beider Schulen zu finden. Klaus Hagenberger, Schulleiter der Korbinianschule, fasst das so zusammen: "Das unterscheidet uns von den Regelschulen: Die Schüler bekommen kein Ziel vorgesetzt, kein "Da musst du hin", sondern sie werden individuell genau da abgeholt, wo sie stehen. Sie sollen, ihrem Lerntempo entsprechend, ganzheitlich vielfältige Lernangebote bekommen, um möglichst selbstbestimmt leben zu können."

Und so bestimmt die Schulform selbst das Ende der Gemeinsamkeiten: Bis zur zehnten Klasse besuchen die Kinder aus der Korbinianschule die Partnerklasse in Kirchseeon; zur Berufsausbildung geht es dann zurück in das Stammhaus in Steinhöring. Auch die Vorbereitung angehender Lehrer für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, die in ihren Klassen sitzen, steckt noch in den Kinderschuhen. Erst allmählich wird auch an den Universitäten entsprechendes Fachwissen vermittelt. Die Koordinatorin Margarete Barthelmes hofft, dass die Gymnasiasten ihre Erfahrungen mit der Partnerklasse mitnehmen ins Studium und sie auch später, wenn sie im Berufsleben stehen, im Hinterkopf behalten: "Vielleicht können wir so Stück für Stück die Gesellschaft umkrempeln." Die Inklusion ist zumindest am Gymnasium Kirchseeon schon so weit fortgeschritten, dass Hürden auch einfach manchmal komplett ignoriert werden. So erzählt Barthelmes gerne die Geschichte von einem Schüler aus der Partnerklasse: Mit aller Selbstverständlichkeit ging er in die Mensa und setzte sich mit an den Lehrertisch.

© SZ vom 24.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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