Süddeutsche Zeitung

Im Landkreis Ebersberg:Von Tränen und Tätern

Bei Missbrauch an Minderjährigen ist die Dunkelziffer groß. Ein neues Präventionsprojekt an Kitas will Kinder sowie ihre Erzieherinnen und Erzieher sensibilisieren und stärken

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Plüschig ist sie, hat eine niedliche Schnauze und großen Knopfaugen: Demnächst wird die rot-weiß getigerte "Katze Kim" einigen Kindergartenkindern im Landkreis Ebersberg einen Besuch abstatten. Sie wird ihnen den Unterschied zwischen angenehmen und unangenehmen Berührungen erklären. Und dass man manchmal "Stopp" sagen muss. Außerdem, ganz wichtig: warum man schlechte Geheimnisse besser nicht für sich behält.

Das Kuscheltier ist Teil einer großen Box, gefüllt mit pädagogischem Material, das zur Selbstwertstärkung bei Kindern verwendet werden soll. Die Box heißt "Starke Kinderkiste" und ist Teil eines Präventionsprojekts gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen. Das Projekt, unter dem Dach der Deutschen Kinderschutzstiftung Hänsel und Gretel und vom Petze Institut entwickelt, wird im Landkreis vom Ebersberger Frauennotruf initiiert, der Kooperationsstelle vor Ort.

Zwei Mitarbeiterinnen gehen in Kindertagesstätten, die sich zu dritt oder viert in einen Verbund zusammenschließen und an dem Projekt teilnehmen können. Deren pädagogisches Personal wird zunächst geschult und bearbeitet im Anschluss mit den Kindern zusammen das Konzept der Starken Kinderkiste. Ehrgeiziges Ziel der bundesweit angelegten Aktion ist es, 5 000 Kitas und 500 000 Kinder zu erreichen. Bisher haben sich vier Kitas aus Ebersberg dazu angemeldet.

"Das Tolle an dem Projekt ist, es ist unglaublich praxisnah und kindgerecht", sagt Hanna Dott vom Frauennotruf. Angelegt ist das Projekt auf fünf Wochen: Jede Woche thematisieren die Erzieherinnen und Erzieher einen Gegenstand aus der Kinderkiste. Zu finden ist darin beispielsweise ein Megafon aus Gold. "Kinder sollen lernen, sich Hilfe zu holen", erklärt Hanna Dott - "und dass Hilfe holen kein Petzen ist." Magnettafeln mit grünen und roten Magneten sollen helfen zu benennen, wo man gerne angefasst wird, und wo nicht. Außerdem ist in der Kinderkiste ein rotes Plüschherz, das es den Kindern erleichtern soll, über ihre Gefühle zu sprechen, sie wahr und ernst zu nehmen.

Die Katze Kim dient hier als Brücke zwischen dem, was die Erzieherinnen erzählen, und den Kindern: Sie ist es, die die Schätze aus der Kiste mitbringt, und sie fasst zusammen, was die Pädagogen mit den Kindern besprechen. Am Ende des Projekts bekommen die Kinder eine Urkunde überreicht.

Eine der Einrichtungen im Landkreis, die bereits die Schulung durch den Frauennotruf durchlaufen hat, ist der Ebersberger Kindergarten Sankt Benedikt. Deren Leiter Adrian Bonnetsmüller erklärt: "Bei uns ist ein Grundsatz, den Kindern eine Stimme zu geben. Sie sollen eine eigene Meinung haben, die sie auch gegenüber den Erziehern und Erwachsenen vertreten." Dafür würden Erzieher in Kindergärten den Grundstein legen. "Wenn man hört: Prävention gegen sexualisierte Gewalt im Kindergarten, bekommt man erst mal einen Knoten im Hals", so Bonnetsmüller. Es sei ein schweres Thema, vor dem man sich jedoch nicht scheuen sollte, es anzugehen.

Die Fortbildung durch die Mitarbeiterinnen des Frauennotrufs sei wunderbar als Vorbereitung für das Projekt gewesen, auch wenn bei den Mitarbeitern die ein oder andere Träne geflossen sei. "Das Thema hat schon was mit uns gemacht", so Kindergartenleiter Bonnetsmüller. "Es hat auch viel mit einem selbst zu tun: Was habe ich in meiner Kindheit erlebt?" Gleichzeitig habe es sein Team motiviert, die Verantwortung zu übernehmen und auch das tolle Material zu nutzen, das die Starke Kinderkiste bietet.

"Das Projekt ist eigentlich als Prävention angelegt, aber jede Prävention schafft auch Intervention", sagt Hanna Dott. "Es kann betroffenen wie nicht betroffenen Kindern helfen." Dass durch Schulungen in diesem Bereich Erzieherinnen und Erzieher sensibilisiert würden und Signale und Täterstrategien besser erkennen könnten, würden auch Studien zeigen. Betroffenen Kindern wiederum könne man durch das Projekt vermitteln: Hier sind Menschen, denen kann ich mich anvertrauen, die nehmen mich ernst. "Häufig wird den Kindern, die Opfer eines Missbrauchs werden, vom Täter eine Mitschuld suggeriert", so Dott. Zu 80 Prozent fänden sich die Täter im sozialen Nahraum des Kindes.

Ein weiterer Bestandteil des Projekts sei es, dem pädagogischen Personal Tipps mit an die Hand zu geben, wie sie sich verhalten sollen, wenn betroffene Kinder sich ihnen anvertrauen. "Es ist wichtig, sehr ruhig und besonnen zu handeln", betont Hanna Dott. Schnellschüsse würden dem Kind selten helfen. Bevor etwa eine Anzeige gestellt werden kann, müssten zunächst viele andere Schritte erfolgen. Dazu gehöre es, immer wieder mit dem Kind zu sprechen, es zu beobachten, sich mit Kollegen auszutauschen, sich an erfahrene Fachleute zu wenden.

Letztlich müsse man sich vergegenwärtigen, dass sexueller Missbrauch an Kindern nicht nur in den großen Fällen, über die in den Medien berichtet wird, stattfinde, sagt Hanna Dott: "Dunkelfeldstudien gehen davon aus, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis vierzehnte Junge von sexuellem Missbrauch betroffen ist." Man gehe von ein bis zwei Kindern pro Schulklasse aus. Dabei sei Kindesmissbrauch beileibe kein Problem der Unterschicht, sondern finde in allen Milieus statt. "Häufig beginnt der Missbrauch im Vor- und Grundschulalter", so Dott. "Daher ist es wichtig, die Kinder schon früh in ihrem Recht auf Selbstbestimmung zu stärken."

Interessierte Kitas, aber auch Eltern, die sich informieren wollen oder Fragen haben, können sich gerne an Hanna Dott vom Frauennotruf wenden unter h.dott@frauennotruf-ebe.de oder 08092 88 110.

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SZ vom 19.05.2021
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