Im Ebersberger Forst:Das Zögern vor dem Schuss

Auch im Landkreis gehen Waldbesitzer mit Drückjagden gegen Wildverbiss vor. Tierschützer kritisieren diese Methode wegen des Stressfaktors für Rehe massiv. Finden im Wald Gemetzel statt?

Von Korbinian Eisenberger

Das Reh ist entwischt und auch die Zeit rennt davon. Die Sicht ist gut, das Gewehr geladen, noch 15 Minuten. Der Mann mit der Büchse steht reglos auf seinem Stand, eine Windböe lässt Schnee von Nadeln rieseln, irgendwo weit weg schlägt eine Kirchenglocke. War's das? Ohne Schuss, ohne Treffer? Hundegebell durchbricht die Stille, das Kläffen wird schneller und schriller. Ein Rascheln, dann springt ein Rehbock aus dem Gebüsch. Der Mann hebt das Gewehr, den Bock im Visier. Die Hand am Abzug zuckt.

Töten, oder leben lassen? Es sind Augenblicke, in denen ein Jäger diese Entscheidung trifft. Und bei einer Drückjagd sind es Bruchteile einer Sekunde. 130 Frauen und Männer haben sich an diesem Dezembertag im Ebersberger Forst zu einer der größten Jagden im Großraum München versammelt. Hunde sollen das Wild in die Nähe der Jäger treiben - Rehe, Hirsche und Wildschweine. Deswegen sind sie hier, Mensch, Hund und Gewehr. Ein Treffen, bei dem es um Treffer geht.

Der Mann auf dem Ansitz ist 60 Jahre alt und mehr als sein halbes Leben auf der Jagd. Heinz Utschig ist der Forstchef in einem der größten Forstgebiete Bayerns und davon überzeugt: Wenn der Wald gedeihen soll, muss Wild gejagt werden. Und zwar mit der Methode der Drückjagd, die effektiv und unter Förstern beliebt ist, jedoch nicht unumstritten. Kritik kommt teilweise von Jägern, vor allem aber von Tierschützern. Utschig sagt: "Wichtig ist, dass man dabei keine Fehler macht."

Mittagsstunde im Ebersberger Forst, die erste Jagdrunde ist vorbei, es gibt Tee und Würstl, während die geschossenen Rehe an Metallgestelle gehängt werden. Eine junge Frau entfernt mit dem Messer Organe und Eingeweide. Überall Blut, ein beißender Geruch. "Da wurde der Pansen erwischt", sagt sie und zeigt auf ein erlegtes Tier. Die Kugel des Schützen hat den Rehmagen durchschlagen, ein unsauberer Schuss also, der wohl dazu führen wird, das einige Stücke nicht mehr essbar sind. Dies ist die Gefahr, wenn sich das Opfer des Schützen schnell bewegt - oder wenn der Schütze schlecht zielt.

Kritiker sehen das Risiko für unsaubere Schüsse bei der Drückjagd besonders hoch. Weil das Wild - anders als bei der Einzeljagd vom Hochsitz - von Hunden in Bewegung gebracht wird und nicht ruhig und arglos im Wald steht, würden Streifschüsse oder Organtreffer noch wahrscheinlicher. Tierschützer sprechen gar von Hetze, die in regelrechten Gemetzeln ende. Ein martialischer Begriff, der passend erscheint, nun da 19 Tierkörper nebeneinander an der Stange hängen und ausbluten. Die bisherige Ausbeute dieser Jagd - und die zweite Runde steht noch bevor.

Die Art des Jagens ist eine Kunstfrage, bei der die Meinungen auseinandergehen, das zeigt dieser Tag im Forst, wo gerade ein Mann sein Jagdhorn zückt. Helmut Diewald, Rauschebart, Filzhut, 81 Jahre alt, "und seit 1958 auf der Jagd". Diewald hat ein eigenes Revier und ist als Signalbläser mit dabei, weniger auf Beutezug, sagt er. Von der Drückjagd halte er nicht sonderlich viel, im Gegenteil: "Das ist nicht weidmännisch", sagt er, was so viel heißt wie: unehrenhaft. Diewald sieht das anders als die meisten hier. Er stehe für den gezielten Schuss vom Hochsitz, sagt Diewald, "das ist auf der Drückjagd nicht geboten".

Drückjagd im Ebersberger Forst. Jagen, Jagd

Die Jäger warten auf einem Stand, bis das Wild vorbeiläuft.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Markt Schwabener ist so lange dabei wie kein anderer Teilnehmer. Er berichtet aus einer Zeit, als es in Bayerns Wäldern ruhig zuging. Einst kamen die Waldtiere noch zum Äsen aus dem Unterholz auf die Wiesen und Lichtungen, dort fanden sie ihre Nahrung. "Da war das mit dem Wildverbiss ein viel kleineres Problem", sagt Diewald, da brauchte es keine Drückjagden. Über die Jahrzehnte aber stieg der Druck auf den Wald: "In den Sechzigern waren es vielleicht ein paar Schwammerlsucher", sagt Diewald. Mittlerweile strömen die Menschen scharenweise ins Naherholungsgebiet Ebersberger Forst. Hinzu kommt die Düngung der Waldwiesen, auch das wurde mehr. So drängten Landwirte, Mountainbiker, Wanderer und Jogger Reh, Hirsch und Sau zurück in den Wald - und der Wildverbiss nahm zu. Oder wie Diewald es ausdrückt: "Schlimm is' gword'n."

Zurück auf dem Hochsitz, wo sich Heinz Utschig in Position bringt, so wie gut hundert seiner Kollegen, die sich auf dem etwa 700 Hektar großen Gebiet verteilt haben, eine Fläche wie 1000 Fußballfelder. Das Holzbrett für die Sitzbank lässt Utschig an der Seite liegen, "wer sitzt verliert", sagt er, im Stehen ist man mit dem Gewehr flexibler. Das Horn bläst, Teil zwei der Jagd beginnt. Utschig entsichert seine Waffe.

Hört man sich unter den Jägern hier um, ergibt sich ein Bild. Natürlich geht es nicht nur und allein um den Schutz des Waldes. Daniela Janker ist aus München in den Landkreis Ebersberg bekommen. Die 29-Jährige ist Försterin von Beruf, für Drückjagden wie diese nimmt sie sich wie viele andere hier Urlaub, 15 Tage waren es in diesem Jahr erzählt sie. Und ja, sagt sie, zugegebenermaßen mache sie das gerne, so wie fast alle hier. "Auf den Gemeinschaftsjagden sind viele dabei, die ich kenne", sagt sie. Und nicht zu vergessen ihr Jagdrüde Carex, eine Tiroler Backe, die sie selbst ausgebildet hat, erzählt Janker. "Hier kann er zeigen, wie gut er ist."

Auf dem Hochsitz bewegt sich nur der Kopf des Jägers, die Hand am Abzug ruht. Schüsse in der Ferne, drei hintereinander. "Wahrscheinlich eine Wildsau", flüstert Heinz Utschig, der schon zwei Rehe hat ziehen lassen. "Die Tiere wissen die Positionen der Jägerstände", erzählt er, "die kennen uns besser als wir uns selbst kennen."

Es ist ein Wettstreit, bei dem es für die einen um Leben und Tod geht. Die 32-jährige Claudia Krüger hat eine Runde gewonnen, die Regensburgerin steht mit Hund und Gewehr am Wegrand und wartet auf den Abtransport ihrer Beute, ein Rehkitz, sieben Monate alt. "Sie war mit der Geiß unterwegs", sagt die Jägerin. Mit der Rehmama also, und Krüger schoss auf ihr Kind. So hart es klingt, ist es so üblich, auch bei der Einzeljagd auf dem Hochstand. Wer sich entscheiden muss, verschont die Geiß, weil das Kitz sonst ohne Mutter in den Winter geht. Oder einfach nicht schießen? Forstchef Utschig sagt: "Dann könnten wir uns die Jagd gleich sparen."

1,7

Kitze wirft eine Rehgeiß pro Jahr, 2005 waren es noch 1,2

Es gibt Alternativen, um junge Nadelbäume vor Wildverbiss zu schützen, Plastikclips zum Anheften an die Baumkronen, oder Schaffett für Setzlinge, das Rehen den Appetit verdirbt. Bei den Bayerischen Staatsforsten sind sie jedoch davon überzeugt, dass diese Methoden zum Schutz des Waldes nicht ausreichen. Auch das ist Teil der Geschichte: Jahrhunderte lang setzten die Förster auf die Fichte und verwandelten die Wälder Bayerns von Misch- in Monokulturen. Erst Ende der Achtziger begannen sie wieder Buchen und Tannen zu pflanzen, also Material, das die Ebersberger Rehe jahrzehntelang von der Speisekarte gestrichen hatten. Umso vorzüglicher schmeckt es ihnen nun, was die Rückwandlung in einen Mischwald verzögert.

In Zahlen sieht das so aus: Vor 15 Jahren bekam eine Ebersberger Geiß im Schnitt 1,2 Rehkitze, mittlerweile sind es 1,7. Als Grund nennen die Staatsforsten die gesteigerte Lebensqualität der Rehe in einem Mischwald - seither werden die Geißen immer beleibter und gebärfreudiger. Die Folge: Im Jahr 2005 schossen die Ebersberger Förster auf 700 Hektar noch 140 Rehe, 2019 sind es auf gleicher Fläche 200. Laut Staatsforsten gelinge es nur so, dass der Bestand der Rehe gleich bleibt.

Im Lager der Jäger brennt eine Feuerschale, ein Jagdhund wärmt seine Pfoten, während sein Hundeführer schimpft. Offenbar haben einige Jäger die Abstandsregelung missachtet und geschossen, als er noch in nächster Nähe war. "Ich würde gerne heut Abend wieder meine Familie sehen", sagt Josef Schlott aus Eichenkofen (Kreis Erding), 61 und seit 40 Jahren auf der Jagd. Ein kritisches Thema bei der Drückjagd: Wenn der Neigungswinkel zum Boden doch mal nicht stimmt, kann ein Querschläger Menschen treffen, auch das ist in Deutschland schon passiert.

Drückjagd im Ebersberger Forst. Jagen, Jagd

Försterin und Jägerin Claudia Krüger mit ihrem Englischen Springerspaniel 'Laxy'.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Im Schein des Feuers kniet ein Mann mit Jagdhut vor einem toten Hirsch und lässt sich und seine Beute von einem Kollegen fotografieren. Sepp Manz, 66, ist der größte Fang auf dieser Jagd gelungen, ein Jahr alt, knapp 70 Kilogramm schwer, die Innerein rausgerechnet. "Ein Meisterschuss", erklärt Otto Freiherr von Feury, ihm gehört das Revier samt Beute. Später wird jeder erfolgreiche Schütze geehrt werden, ihren Opfern erweisen sie mit einem Zweig im Maul die letzte Ehre. Etwa 70 Schüsse werden am Ende des Tages gefallen sein. Die Ausbeute: 41 Rehe, eine Hirschkuh, ein Hirsch und ein Fuchs. 44 Augenpaare, aus denen der Tod spricht, die aber keine Transporter oder Schlachthöfe sehen mussten. Oder wie es Forstchef Utschig ausdrückt. "Bis kurz vor dem Schuss waren diese Tiere glücklich."

Drei Rehe sind in 90 Minuten an seinem Hochsitz vorbei gekommen, eines war zu schnell, zweimal verdeckte ein Ast das Schussfeld. Der Rehbock ist die letzte Chance für den Jäger Utschig. Das Tier springt wenige Meter an seinem Hochstand vorbei, die Hand am Abzug folgt seiner Bewegung, bereit abzudrücken. Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden: Der Bock bewegt sich geschickt, er zeigt dem Jäger das Hinterteil, Schritt für Schritt. Es wäre ein Tabu, ihn in dieser Position zu schießen, weil der Körper von hinten zerfetzt wird und nicht mehr verwertbar ist. Der Finger ruht auf dem Abzug. Noch bevor das Tier im Dickicht verschwindet, senkt der Jäger die Waffe.

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