Süddeutsche Zeitung

Vortrag vor Realschülern:Wie Sally Perel als Hitlerjunge den Holocaust überlebte

Der 93-jährige Zeitzeuge teilt seinen einzigartigen Blick auf die Geschichte. Die Neuntklässler in Vaterstetten hören gebannt zu.

Von Christian Bauer, Vaterstetten

"Du sollst leben." Diese drei "magischen Worte" seiner Mutter haben Sally Perel das Leben gerettet. Denn als ihn während des Zweiten Weltkriegs ein SS-Soldat fragte, ob er Jude sei, da hörte er nach eigener Aussage in seinem Kopf genau diese Worte. Daher seine Antwort: "Nein, ich bin Volksdeutscher." Aus dieser Lüge ergab sich eine einzigartige Zeitzeugen-Geschichte. Eine Geschichte, die der heute 93-Jährige mit dem neunten Jahrgang der Realschule Vaterstetten teilt.

Einzigartig ist sie deshalb, weil Perel, damals ein Jugendlicher, den Holocaust aus einer Perspektive mitbekam wie wohl kein anderer Jude: aus der eines Hitler-Jungen. Denn der SS-Soldat von damals glaubte ihm seine Lüge, und Sally wurde in die Hitlerjugend aufgenommen. Natürlich konnte er dort nicht den jüdischen Namen Sally behalten. Fortan nannte er sich Josef, konnte er doch nicht ahnen, "dass diese Lüge mich in wenigen Monaten zu einem begeisterten Hitler-Jungen machen würde".

Vor alldem lebte Sally mit seiner Familie in der polnischen Stadt Łódź, aus Deutschland geflüchtet aufgrund der ab 1935 legalen Judenverfolgung. Auch aus dem Exil musste Sally fliehen, seine Eltern schickten ihn fort, als Deutschland 1939 in Polen einfiel. Er sollte nicht gemeinsam mit ihnen im von den Nazis errichteten Ghetto sterben. Die letzte Bitte seines Vaters an ihn: "Bleib immer Jude, dann wird Gott dich beschützen."

Bald sollte Perel aber feststellen, dass dieser Wunsch des Vaters dem der Mutter, er solle leben, widersprach. Von den Nazis aufgegriffen und als einer der ihren angesehen, lebte er in ständiger Angst, jemand könnte seine wahre Identität entdecken, was sein sicherer Tod gewesen wäre. Eine "Spaltung meiner Seele in zwei Teile" sei die Folge gewesen, ein ewiger Kampf zwischen Jude und Nazi, Täter und Opfer, zwischen Sally und Josef, der bis heute in ihm tobe.

Vier Jahre lang - für ihn aber "vier Ewigkeiten" - habe er dieses Doppelleben führen müssen, erst im Russland-Feldzug, später in einem Hitlerjugend-Internat in Braunschweig. In dieser Zeit, gesteht Sally Perel, habe er selbst nationalsozialistisches Gedankengut angenommen. Einzig die Ermordung der Juden - seines eigenen Volkes - habe er nie gutheißen können.

Die Stille in der Turnhalle zeugt von der Betroffenheit der knapp zweihundert Schüler. Besonders, wenn Perel von seinem vergeblichem Versuch berichtet, seine Eltern im Ghetto in Polen zu besuchen; oder von den Vergewaltigungsversuchen eines Kameraden an der Front, hängen alle gebannt an seinen Lippen.

Perel definiert sich als "frei denkender Israeli"

Entsprechend viele Fragen haben die Jugendlichen an ihn: Ob er die gleichen Entscheidungen wie damals wieder treffen würde? Was es für ein Gefühl sei, jeden Morgen mit der Angst aufzuwachen, jemand könne sein Geheimnis aufdecken? Und ob er auch während der Zeit in der Hitlerjugend noch heimlich gebetet habe?

Nein, antwortet Perel klar auf letzteres. Er habe damals an der Existenz Gottes gezweifelt, und definiere sich auch heute noch als "frei denkender Israeli". Dass ein Gott in Auschwitz anwesend gewesen sei, könne er sich schlichtweg nicht vorstellen.

Da er kein gläubiger Jude ist, hätte der als kleines Dankeschön überreichte Wein nicht unbedingt koscher sein müssen. Im Anschluss konnten sich die Schüler ein Exemplar von Perels Buch "Ich war Hitlerjunge Salomon" sichern und es sich signieren lassen.

Doch weder um den Buchverkauf ging es, noch habe er vorgehabt, den Schülern ein schlechtes Gewissen wegen den Verbrechen ihrer Vorfahren zu machen. Stattdessen sei es das Ziel seiner dreiwöchigen Lesereise, dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte niemals wiederhole oder vergessen werde - ganz besonders in Zeiten einer erstarkenden Neonazi-Szene.

Er ist sicher: "Wir werden Auschwitz nie loswerden, können es nicht wie Staub vom Mantel abklopfen. Es sitzt zu tief im Gewebe."

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SZ vom 21.03.2019/clli
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