Piusheim in Baiern:"Es gehörte zu den absoluten Horroreinrichtungen"

Piusheim in Baiern: Bereits 2006 stellte die Jugendhilfeeinrichtung in Piusheim ihren Betrieb ein. Im historischen Gebäude ist jetzt eine Schule untergebracht.

Bereits 2006 stellte die Jugendhilfeeinrichtung in Piusheim ihren Betrieb ein. Im historischen Gebäude ist jetzt eine Schule untergebracht.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bereits 1969 eskalierte die Lage im Piusheim, als Schwabinger Studenten 24 Jugendliche befreiten und vor der Polizei versteckten. Die Historie der Erziehungsanstalt.

Von Korbinian Eisenberger, Baiern

Zum Ende der Sechzigerjahre eskalierte die Situation so, dass es in aller Öffentlichkeit wahrgenommen wurde: Schwabinger Studenten zogen hinaus in den Landkreis Ebersberg, um eine Befreiungsaktion zu starten. Ihr Ziel: das Piusheim in der Gemeinde Baiern.

In Baiern sollen über Jahrzehnte Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden sein. Bekannt wurde dies, weil jetzt ein mögliches Opfer erstmals öffentlich über seine Zeit in der Einrichtung sprach. Eine Überraschung? Nicht für Matthias Katsch.

Die Einrichtung südöstlich von München "war schon damals berüchtigt", erzählt Katsch, der in dieser Sache seit zehn Jahren forscht; der 57-Jährige ist Mitglied der Bundesaufarbeitungskommission und Vorsitzender der Opferinitiative "Eckiger Tisch" in Offenburg (Baden-Württemberg). Das Piusheim, sagt er bei einem Telefonat am Dienstagnachmittag, "gehörte bundesweit zu den absoluten Horroreinrichtungen". Die Befreiungsaktion der Studenten glückte, zwei Dutzend Schüler des Piusheim fanden so den Weg aus Baiern in Schwabinger Verstecke. Doch dann, im September 1969, schlug die Polizei zurück.

Details lassen sich aus alten Presseartikel entnehmen. "Um fünf Uhr griff die Polizei zu", heißt es in einem Spiegel-Bericht vom 30. September 1969. "In VW-Bussen und mit Hunden rückten die Beamten, teils in Uniform, teils in Zivil, gleichzeitig gegen 16 Objekte vor: Sie durchsuchten die Räume des Asta in Schwabing, den (linken) Trikont-Verlag im Osten Münchens sowie 14 Wohnungen quer durch die Stadt, in denen politische Kommunen hausen." Ergebnis des Zugriffs: "21 entwichene Fürsorgezöglinge, eine ausweislose erwachsene Mannsperson, eine zweite mit Haschisch-Kippe (...), Batterien und sonstige Materialien, die sich für die Herstellung von Molotow-Cocktails eignen könnten".

Hinter all dem stand damals die linke Studentenbewegung "Südfront", alten Berichten nach fanden so etwa hundert Zöglinge nach und nach den Weg in Verstecke der Kommune. Im Spiegel hieß es damals: "Allein aus dem Pius-Heim (...) verschwanden in den letzten Wochen 24 schwererziehbare Jugendliche gen Schwabing."

Ein Sprung in die Gegenwart, ins Baiern im April 2020. Dort steht ein Schmuckstück im Landkreis Ebersberg. Fast wie ein Schloss hebt es sich in dem Bairer Ortsteil baulich hervor, umgeben von grünen Wiesen und Bäumen. Um nicht zu sagen: Das Schulgebäude der Freien Schule Glonntal steht mitten im Idyll. Die Anlage wurde komplett saniert, kaum etwas erinnert noch an die einstige Anstalt für kriminelle und schwer erziehbare Jugendliche.

Bürgermeister Riedl: "Davon hatte ich nicht ansatzweise eine Ahnung"

Seit ein neuer Träger übernommen hat, gab es von dort oft Positives zu berichten. Im Frühjahr 2018 musste sich die Privatschule zwar für den fristlosen Rauswurf eines Schülers vor Gericht verantworten, gewann aber den Prozess gegen die Mutter des Buben. Ansonsten Bilder, die man gerne sieht, etwa Kinder, die in historischer Kleidung zu einem Mittelalter-Spektakel wandern. Die Historie war hier lange nicht mehr Thema. Umso schwerer ist zu fassen, was sich hier einst zugetragen haben soll.

Was Anfang der Woche bekannt wurde, erinnert wenig an Idylle. Als die Freie Schule Glonntal noch Piusheim hieß, soll Minderjährigen dort über Jahrzehnte Schlimmes widerfahren sein. Laut eines DPA-Berichts sollen dort in den 50er, 60er und 70er Jahren Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden sein. Mittlerweile haben sich insgesamt sieben Betroffene und Zeitzeugen beim Eckigen Tisch gemeldet, die im Piusheim untergebracht waren.

Die Vorwürfe gegen das ehemalige Heim, in dem bis 2006 schwer erziehbare Jungen im Alter zwischen sechs und 18 Jahren betreut wurden, wiegen schwer. Die Staatsanwaltschaft München II hat Vorermittlungen eingeleitet, nachdem ein heute 56 Jahre alter Mann, der selbst wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht steht, berichtete, er sei in seiner Zeit im Piusheim von mehreren Männern missbraucht worden. Er sprach auch von Prostitution.

Nachfrage in Baiern, wo Bürgermeister Martin Riedl von der Nachricht ziemlich kalt erwischt wurde, wie er sagt. "Davon hatte ich nicht ansatzweise eine Ahnung." Riedl kann dafür aus einer Zeit erzählen, als das Piusheim noch als solches genutzt wurde. Gegründet vom katholischen "Verein zur Betreuung der verwahrlosten und bestimmungslosen Jugend" diente es in Riedls Kindheit als Heim für Schwererziehbare. Der spätere Bürgermeister lebte damals mit seinen Eltern in 500 Metern Luftlinie zum Piusheim. Nicht in direkter Sichtweite, "es war ein Wald dazwischen", erzählt er. Doch nah genug, um einen Eindruck zu bekommen, was sich einst im Dunstkreis des Piusheims abspielte.

Bei diesem Telefonat Anfang der Woche berichtet Riedl von Brandstiftung, Steinewerfern und regelrechten Anschlägen auf Landwirte. "Es hat immer wieder Probleme gegeben", so Riedl. Eingeworfene Fenster, Zündeleien an Scheunen. Landwirte waren öfters die Zielscheibe für Schindluder, so Riedl. "Besonders gerne wurden Tiere, die auf der Weide waren, frei gelassen", sagt Riedl. Die Burschen aus dem Piusheim, die meisten zwischen 14 und 17 Jahre alt, seien erkennbar gewesen, weil sie stets in Gruppen unterwegs waren, erinnert er sich. Bisweilen wurden die Täter von der Polizei erwischt. Wenn nicht, so wurde im Ort nicht wirklich in Frage gestellt, wer hier am Werk war. "Die Piusheim-Kinder hatten ihren Ruf weg", sagt Riedl.

"Total ausgeliefert, oft in kirchlicher Trägerschaft"

Wie üblich waren sexuelle Übergriffe und Missbrauch einst in Erziehungsanstalten wie dem Piusheim? "Aus ganz vielen Heimen aus dieser Zeit wird von Gewaltherrschaft berichtet", so Katsch. Dies sei "eher die Regel als die Ausnahme gewesen". Katsch berichtet von Heimen, "wo Kinder den Priestern zugeführt worden". Seit langem raune man sich dies in München und im Umkreis zu. "Total ausgeliefert, oft in kirchlicher Trägerschaft, wurden Kinder zu Opfern gemacht und nicht selten an Außenstehende gegen Geld angeboten", so Katsch. So gesehen seien die Neuigkeiten über das Piusheim für ihn "nicht verblüffend, sondern eine Bestätigung" dessen, worüber bisher kein Betroffener zu sprechen wagte.

Auch das sei Teil des Ganzen, so Katsch. Speziell im Piusheim waren junge Menschen untergebracht, die aufgrund eigener Verfehlungen umso mehr der Macht der Erziehungsanstalt ausgesetzt waren. Matthias Katsch von der Aufarbeitungskommission spricht von einer in solchen Fällen typischen "Opfer-Täter-Dynamik". Es geht also um Menschen, die beide Rollen kennen: Dazu zählt auch der Mann des Anstoßes, ein 56-Jähriger aus dem Kreis Starnberg, der vor Gericht von jahrelangen Misshandlungen durch einen angehenden Priester und einen Erzieher berichtete - und derzeit selbst wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern in 761 Fällen angeklagt ist.

Seinerzeit war das Piusheim eine katholische Einrichtung, der katholischen Kirche droht somit ein weiterer Missbrauchsskandal. Von der Pressestelle des Erzbistums München-Freising ist Anfang der Woche auf SZ-Anfrage zu erfahren, dass man stark "an einer Aufklärung interessiert" sei und für eine enge Kooperation mit der Staatsanwaltschaft bereit stehe. Die beiden Männer - der damals angehende Priester und der Erzieher - seien noch nicht identifiziert, heißt es von Bistum und Staatsanwaltschaft. Also ist ungeklärt, ob sie die Straftaten tatsächlich begangen haben und ob sie noch am Leben sind.

Die Polizeiaktion im September 1969 endete so: Noch am Abend wurden " 21 entwichenen Zöglinge" in ihren Heimen abgeliefert. "Keine 24 Stunden später fanden sich die ersten fünf wieder bei ihren Schwabinger Erziehungstherapeuten ein."

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Das Piusheim wurde im Oktober 1905 vom katholischen "Verein zur Betreuung der verwahrlosten und bestimmungslosen Jugend" gegründet.

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