Süddeutsche Zeitung

Hightech aus Bruck:Trennscheiben als Türöffner

Als Messebau-Kunden wegbrechen und Aufträge im Maschinenbau zurückgehen, geht Acrylglas-Spezialist Derschmidt aus Alxing neue Wege

Von Michaela Pelz

Was für ein Mist! Da haben sich Ilonka und Markus Steinberger vom "Marktblick" in Glonn so große Mühe mit ihrer Theken-Deko gegeben und nun scheint es, als müsse das Herzstück, eine imposante 18-Liter-Flasche besten portugiesischen Rotweins, zur Anbringung einer Trennwand entfernt werden.

Thomas Kaiser erinnert sich noch gut an die bedrückte Miene seines alten Kumpels bei dieser Vorstellung. Und daran, wie daraus erst Erleichterung, dann Begeisterung wurde, als der Wirt hörte: "Mei, dann arbeiten wir halt um die Deko herum". An dem Tag treffen sich die beiden Glonner nämlich nicht als die Freunde, die sie, so Steinberger, seit ihrem 16. Lebensjahr sind, sondern als Geschäftspartner. Denn Thomas Kaiser ist Betriebsleiter von Acrylglas Derschmidt, einem mittelständischen Betrieb für Be- und Verarbeitung von transparenten und technischen Kunststoffen, der sich als Reaktion auf die Erfordernisse der Pandemie zusätzlich auf individuelle Trennwände spezialisiert hat.

Darum bringt Kaiser zum Lokal-Termin seinen Zollstock mit und misst sorgfältig die Abstände zwischen den einzelnen Deko-Elementen, bevor er eine erste, kleine Zeichnung anfertigt, die dann später zur Grundlage für den Computer-Entwurf der endgültigen Trennwandteile wird. Wie diese dann ausgefräst, maßgeschneidert an die vorhandene Thekengestaltung angepasst und schließlich inklusive pfiffiger Details eingebaut werden, ist Schritt für Schritt in einem kleinen Youtube-Film festgehalten. "Das ist für den Gast besser als jede komplizierte schriftliche Erklärung meines Sicherheitskonzepts", sagt der Gastronom mit einem Schmunzeln.

Wie es in der Praxis aussieht, wenn die großen, 140 000-Euro teuren CNC-Fräsen unermüdlich ihr computergesteuertes Werk tun, davon darf man sich bei einer Presseführung in Alxing überzeugen. Es ist nach Pöring und Ingelsberg der dritte Standort für die vom gebürtigen Tiroler Wolfgang Derschmidt 1975 gegründete Firma, wo sich heute dessen Stiefsohn Thomas Kaiser um Leitung und Arbeitsvorbereitung kümmert. Der gelernte Schreiner und Betriebswirt des Handwerks (HWK), seit Anfang der 90er-Jahre im Unternehmen, ist auch für die Ansiedelung in dem idyllischen Ort zwischen Grafing und Glonn verantwortlich: Als er einem Freund von der Suche nach einem neuen Betriebsgelände erzählt, weil das bisherige zu klein geworden ist, bietet der ihm Platz auf dem eigenen Hofgelände an. Seit 1999 lebt man nun Tür an Tür, das L-förmige Gebäude von Acrylglas Derschmidt, in dem auf zwei Stockwerken die Produktionshallen untergebracht sind, fügt sich harmonisch in die restliche Bebauung ein - und der Kumpel ist mittlerweile Teil der 17-köpfigen Belegschaft aus Modellbau-Spezialisten, Kunststoffmeistern, Verfahrensmechanikern, Schreinern und Büroangestellten. Für sie alle, samt der vier Auszubildenden, steht seit den drastischen Veränderungen in der Auftragslage des Unternehmens Kurzarbeit an.

Zu den Wendepunkten gehört sicher jenes Erlebnis im Februar, als ein fertiger Messestand nur noch auf seine Abholung wartet. Doch dann wird die komplette Veranstaltung abgesagt. Der Auftraggeber nimmt die Ware trotzdem ab: "Jeder hatte ja die Hoffnung, dass alles nur auf den Sommer verschoben wird. Keiner dachte, wie schlimm es wird", erinnert sich Kaiser.

Doch schnell ist klar, dass empfindliche Einschnitte drohen.

Das Geschäft im Bereich Objekt-, Messe- und Ladenbau kommt quasi zum Erliegen. Auch die Industriekunden halten sich mit Bestellungen zurück. Für sie werden normalerweise Einhausungen von Maschinen gefertigt, um diese und ihre Benutzer während der Produktion zu schützen oder eine Sichtmöglichkeit während des Produktionsprozesses zu schaffen.

Weitere Rückgänge sind bei den Aufträgen von Museen, Künstlern, Werbeagenturen, Design- oder Architekturbüros zu verzeichnen. Wer nicht weiß, wie die eigene Zukunft aussieht, braucht vorerst keine speziellen Vitrinen, Rahmen, Scheiben oder Objekte, um sie in seine Werke zu verbauen.

Und dort, wo Hauptversammlungen ins Internet verlegt werden, muss man die Aktionäre nicht mehr mit Ausstellungen im Foyer erfreuen: Erinnerungen an eine Vergangenheit, die gar nicht so lange zurückliegt, finden sich heute in Kaisers Besprechungsraum. Darunter ein Objekt, das man für ein Chemie-Unternehmen hergestellt hat. "Auch wenn man das denken könnte, es stellt nicht das Corona-Virus dar, sondern ein Atom", erklärt Kaiser lachend.

Dann zeigt er voller Stolz zwei therapeutische Spiele für sehbehinderte Kinder und Erwachsene. Im ersten gilt es, dreidimensionale geometrische Figuren in verschiedenen Farben in eine Lochmaske einzupassen, um so die Auge-Hand-Koordination zu trainieren. Mit dem zweiten, einem Ständer mit motorbetriebenen Wechselscheiben, deren Muster an die Bilder von optischen Täuschungen erinnern, können Sehfehler erkannt und therapiert werden.

Gerade an diesem Gerät wird gut deutlich, worin die Leistung des Unternehmens besteht, nämlich Acrylelemente mit Materialien wie Holz, Aluminium, Metall oder Edelstahl zu kombinieren, um so Produkte in größerer Stückzahl, Kleinserie oder Einzelanfertigung zu erstellen.

Die damit verbundene Erfahrung nebst Flexibilität und Ideenreichtum kommt Kaiser und seinem Team nun plötzlich zugute. Vor der Pandemie seien Trennwände nie ein Thema gewesen, doch nun ist auf einmal die Nachfrage da. Los geht es mit Apotheken und Arztpraxen, dann kommt das Landratsamt, gefolgt von immer mehr Läden. "Die hatten sich anfangs irgendetwas aus dem Internet bestellt und stellten nun fest, dass sie etwas Größeres brauchten. Außerdem wollten immer mehr Leute eine individuelle Lösung, die auch etwas hermacht", berichtet der Unternehmer. Also setzt er sich ins Auto, wenn einer anruft, schaut sich die Lage in den Geschäften der Umgebung an, in Lokalen und Bars in München, fährt bei Bedarf zum Ausmessen sogar bis nach Starnberg und startet danach die Fertigung. Das Ergebnis sind individuelle Lösungen - eben so wie das, was Markus Steinberger nun in seinem "Marktblick" hat.

Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass solche Auftragsarbeiten auch künftig Teil des Portfolios bleiben werden, neben Automobil-Bestandteilen, Scheiben für CT- und Röntgengeräte, Hauben für den Maschinenbau, Bauteilen aus Acrylglas für Spielgerätehersteller oder nahtstellenlose Kantrohre für einen Lampenhersteller.

Man kann gut verstehen, warum Kaiser diesen abwechslungsreichen Beruf mit seinen vielen kreativen Aspekten und stets neuen Herausforderungen so liebt. Darum spürt er auch jedes Mal beim Abziehen der Schutzfolie wieder dieses stolze Prickeln. So wie damals bei der Montage im Glonner "Marktblick".

Dort kann man sich auch im neuen Jahr mit Abstand sicher fühlen, plant Steinberger doch, die Trennwände so lange als nötig beizubehalten. Wenn er erst wieder Gäste bewirten darf, steht für seinen Freund Thomas Kaiser auf jeden Fall ein Glas von dem Herdade do Rocim bereit. Allerdings nicht aus der 18-Liter-Flasche vom Tresen. Die bleibt, wo sie ist, als Blickfang zwischen den auf sie zugeschnittenen Trennelementen.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2020
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