Als am Montagabend ein Handball-Krimi zehn Millionen Deutsche in den Bann zieht, fiebert auch Ella mit. Die sechsjährige Grafingerin sieht, wie der deutsche Torwart pariert, als hätte er hellseherische Fähigkeiten. Sie sieht, wie sich die Jungs im WM-Spiel gegen Kroatien auch dann nicht hängen lassen, als sie in Rückstand geraten. Das gefällt ihr. "Die Handballer spielen dann gleich wieder weiter", sagt sie. Spielen will nun auch sie: Seit einer Woche trainiert Ella bei den Grafinger Minis.
Die Nation ist im Handball-Fieber. Auch im Landkreis Ebersberg sind sie von den lokalen Hochburgen in Anzing, Vaterstetten, Grafing in die Münchner Olympiahalle gepilgert; haben sich vom Spiel des bodenständigen Nationalteams verzaubern lassen. Eher wie verhext wirkt es aber, wenn es um die Frage geht: Werden die Vereine auch langfristig vom Handball-Fieber profitieren, wenn die Spitzenspieler ihre Bälle am Sonntag wieder einpacken?

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Der Tenor: ein nüchternes "wohl kaum". Grund eins: Allzu viele Ellas scheint es zur Zeit (noch) nicht zu geben. Grund zwei: zu geringe Trainingsmöglichkeiten, um mehr in die Breite gehen zu können. Ein Problem, von dem sie in Zorneding ein Liedchen singen können. Mit der weiblichen A-Jugend hat der TSV genau eine Handballmannschaft, die neun Mädels trainieren nur einmal in der Woche - um bei den Spielen am Wochenende stets zu verlieren.
Weil untere Ligen eingestampft wurden, muss die Mannschaft in der Bezirksoberliga spielen - gegen deutlich bessere Mannschaften. "Für uns ist das desillusionierend", sagt Petra Gibtner. Sie ist Abteilungsleiterin, Trainerin, Managerin in einem. Den Vätern, die wegen ihrer nun Handball-infizierten Söhne auf sie zukommen, mag sie keine großen Hoffnungen auf eine Buben-Mannschaft machen: "Um etwas aufzubauen, bräuchten wir mehr Hallenkapazitäten. Dabei würden wir so schnell 20 Jungs finden", sagt sie.
Eine Klage, die auch aus Ebersberg und Anzing deutlich zu vernehmen ist. "Wir haben so viele Minis, dass wir mit den Hallenkapazitäten kaum hinterherkommen", moniert der Ebersberger Teammanager Felix Mäsel. Der Anzinger Manager Günter Erber formuliert es so: "Wenn wir ein, zwei Mannschaften mehr hätten, die etwas erreichen wollen, haben wir ein Problem." Und das trotz eigener Vereinshalle.
Dabei würden die Handballer ihren Sport so gerne weiter verbreiten. "Im Handball gibt es kein 0:0", sagt die Vaterstettener Abteilungsleiterin Melanie Gernsbeck. Wie ihre Sportskollegen kann sie sich einen kleinen Seitenhieb gegen den omnipräsenten Fußball nicht verkneifen: "Niemand wälzt sich fünf Minuten am Boden, es gibt selten Rudelbildung bei Schiedsrichterpfiffen, keine Fangruppen, die sich auf der Tribüne prügeln." Die Trainer sehen in den deutschen Nationalspielern, die Ella und Co. verzaubern, auch echte Vorbilder: "Sie sind nicht so gesättigt wie die Fußballer", sagt die Zornedingerin Gibtner.

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Doch alles Schwärmen bringt nichts, wenn die Strukturen fehlen. Und ein Zugpferd, um diese voranzutreiben. Im November 2018 behauptete Bayern Münchens Präsident Uli Hoeneß, dass Handball "international wirtschaftlich nichts wert" sei. "In fast keinem Land spielt Handball eine Rolle, außer in Deutschland." Das zu ändern, sich im professionellen Handball zu engagieren, lehnt Ex-Fußballer Hoeneß seit langem ab. "Es bräuchte jemanden, der sich dessen annimmt", fordert Gibtner.
Doch weil dieser jemand auf der großen Bühne nicht in Aussicht ist, wird sich auf den kleinen Bühnen im Landkreis wohl nicht viel ändern. "Wenn wir Weltmeister werden und zwei Jahre nichts kommt, dann fallen die Leute wieder ab", moniert die Vaterstettenerin Gernsbeck. Dazu beitragen werden wohl auch die Übertragungsrechte: Die Spiele der ersten Liga werden nur im Privatfernsehen gezeigt. "Im Versteck", wie es Anzings Teammanager formuliert. Eine Gemengelage, die es umso schwerer für die Vereine macht, Sponsoren zu finden - ein Teufelskreislauf gegen den Aufstieg des Randsports.
Den Spaß an der WM will man sich im Landkreis trotz der bescheidenen Aussichten nicht nehmen lassen. In Vaterstetten werden sie am Freitag das Training aussetzen, "damit jeder mitfiebern kann" im Halbfinal-Duell gegen Norwegen; für das Finale am Sonntag will man noch ein Public Viewing auf die Beine stellen. Vor dem Bildschirm mitfiebern wird auch die sechsjährige Ella. Am Donnerstagabend hat die Sechsjährige selber zum zweiten Mal mit Handbällen hantiert, sie will dabei bleiben, sagt sie: "Weil ich's halt gut find'."