Süddeutsche Zeitung

SZ-Kulturpreis Tassilo:Eine Familie, ein Auftrag

Ohne das überwältigende Engagement von Vater, Mutter und Tochter Gütlich gäbe es die "Kulturtage Poing" nicht. Deswegen ist das Trio nun für den Tassilo nominiert.

Von Michaela Pelz, Poing

Einhundertundeins. "Es sind genau 101 Fotos, Sie brauchen nicht zu zählen", sagt Cornelia Gütlich, Vorsitzende des Vereins "Kulturtage Poing", lachend, als man das gemütliche Wohnzimmer in der Wohnung ihrer Eltern betritt. Offenbar sitzen nicht selten Besucher auf der Couch, die während des Gesprächs beginnen, die Portraits zu zählen.

An der Wand der Gütlichs hängen 101 Sängerinnen und Sänger des National-, Gärtnerplatz- und Prinzregententheaters sowie Dirigenten, lauter Musiker, die Vater Michael sehr schätzt. Aber die Bilder sind auch 101 Zeugnisse von dem, was einen großen Teil des Familienlebens von Vater, Mutter und Tochter Gütlich ausmacht: Musik. Kultur. Theaterleben. Und zwar nicht erst seit der Gründung des Vereins Kulturtage Poing im Jahr 2013.

Dessen Angebot gäbe es wohl nicht ohne das beispiellose Engagement dieser drei Menschen - obwohl zwei von ihnen nach wie vor einen Vollzeitjob haben: Lehrerin Cornelia unterrichtet an einer privaten Realschule, ihre Mutter Sabine, von Beruf Kinderkrankenschwester, ist stellvertretende Stationsleitung im Kinderzentrum München.

An dieser Stelle hakt die 63-Jährige, die im Verein für die Finanzen zuständig ist, ein: "Bitte schreiben Sie unbedingt, dass die Kulturtage immer auch eine Teamleistung sind." Zwar habe man vielleicht die Initialzündung zur Gründung des Vereins geliefert. Aber erstens brauchte es dazu seinerzeit schon weitere Personen, um auf sieben Vorstandsmitglieder zu kommen - "die waren sofort da!" - und zweitens seien es inzwischen noch viel mehr Mitstreiter. Alle hätten sie schnell eine Aufgabe und ihren perfekten Wirkungskreis gefunden und sorgten gemeinsam für das Gelingen und den reibungslosen Ablauf jener Veranstaltungen, die die Kulturlandschaft vor Ort so geprägt haben. Woran, auch das betonen die Gütlichs, die finanzielle Unterstützung durch langjährige Sponsoren, Landkreis und Gemeinde ebenfalls ihren Anteil hat.

Das Spektrum der Kulturtage ist groß. Zu den festen Bestandteilen zählen Operette, Theater, Ballett und Volksmusik, aber es gab auch schon Kabarett, Musical oder eine Fotoausstellung. 2022 gehörte erstmals auch eine Lesung zum Programm, und zwar von dem Bestsellerautoren-Duo "Iny Lorentz" alias Iny Klocke und Elmar Wohlrath, die in Poing leben und den Verein von Anfang an als Mitglieder unterstützten.

Eine solche Entwicklung hätte sich wohl niemand träumen lassen, als im Oktober 2014 die erste Auflage der Kulturtage mit einem breiten Programm quer durch alle Sparten an den Start ging. "Wir meinten, fünf Tage am Stück seien eine gute Idee. Dann haben wir gemerkt, dass das zu anstrengend ist. Für die Poinger und für uns", sagt Cornelia Gütlich. Darum fand man zu dem mittlerweile etablierten Rhythmus aus "großen" Kulturtagen à zweimal drei Tagen im Oktober aller geraden Jahre und "kleinen", zweitägigen Kulturtagen im jeweils darauffolgenden Mai. Zwar sei dieses System während der Pandemie ein wenig verrutscht, soll aber nun wie gewohnt fortgeführt werden.

Warum nicht jedes Jahr ein Theaterstück aufgeführt werden kann, ist leicht zu erklären: "Der Aufwand wäre zu groß, außerdem würden uns dann die Laienschauspieler vielleicht abspringen," erläutert Cornelia Gütlich, deren Vater großen Wert darauf legt, "Spielleiter und nicht Regisseur" der Truppe zu sein. Denn habe er erst das geeignete Stück gefunden, mit einer passgenauen Rolle für jeden der Akteure, und hätten diese den Sinn des Stücks erfasst, "dann muss man nix mehr machen, dann kriegen die das ganz allein total fantastisch hin".

Bei allen Ausgaben der Kulturtage gesetzt sind eine launige Moderation durch Cornelia Gütlich und ein Operettenabend in Zusammenarbeit mit dem Petershausener Kammerorchester: "Ohne die würden wir nie spielen!" Deswegen habe sich mittlerweile eine so veritable Freundschaft entwickelt, dass sich auch schon mal die Termine nach der Verfügbarkeit des Ensembles richteten. 2022 hat sich das Ensemble übrigens mit einer Einladung revanchiert, als in seinem Heimatort ein Schulhof in Amphitheater-Form eröffnet wurde.

Bei den Konzerten mit von der Partie sind auch stets Mezzosopranistin Barbara Sauter und Tenor Richard Wiedl, die ebenfalls seit der ersten Stunde zur Stammbesetzung gehören - und schon zweimal verstärkt wurden durch Ausnahmetalent Frederic "Freddy" Jost, einen jungen Bassisten aus Anzing, der mittlerweile aber nicht mehr im Landkreis lebt.

Alle Beteiligten könnten allerdings längst nicht so glänzen, wie sie es tun, würde nicht Michael Gütlich die Stücke des Operettenabends so passgenau auswählen. Das kann der frühere Bühnenarbeiter des Gärtnerplatztheaters aufgrund seiner Begeisterung für die Musik - und dank seiner Familiengeschichte. "Schon als Dreijähriger lag ich unter dem Klavier und hörte meinem Vater, einem Opernsänger, beim Proben zu," erzählt der in Bad Pyrmont aufgewachsene 82-Jährige, dem man sein Alter definitiv nicht ansieht. Später habe er selbst im Mozart-Chor gesungen - während Gattin Sabine als Jugendliche in der Singakademie erste musikalische Schritte machte. Und wiewohl sich all das in Berlin zutrug, lernten sich die beiden erst in Bayern kennen, wo auch Tochter Cornelia geboren ist.

Die 33-Jährige wiederum hatte schon während ihrer Schulzeit das Theaterspiel für sich entdeckt. Keine Frage also, dass sie sich dem Ensemble anschloss, das sich anlässlich der 1150-Jahr-Feier im Jahr 2010 zusammenfand. Und sofort Feuer und Flamme war, als andere Mitwirkende immer wieder den Wunsch äußerten, danach noch weiter gemeinsam auf der Bühne zu stehen. So kam es zur Vereinsgründung. Neben der kreativen Selbstverwirklichung gehörte zu deren Intention freilich aber auch, die örtliche Kulturszene zu beleben: Poing sollte nicht zur Schlafstadt werden.

Dabei habe die Devise immer gelautet: "von Poingern für Poinger", erzählen die Gütlichs, weswegen man bis heute großen Wert auf die Einbindung örtlicher Vereine lege - etwa beim "Bayrischen Abend" und natürlich bei den allseits beliebten Aufführungen in Zusammenarbeit mit der Ballettschule des Familienzentrums.

"Weil die Kinder dabei nicht nur Spitze tanzen, sondern auch mit einem Liveorchester auf der Bühne stehen dürfen, ist dieser Auftritt für sie ein absolutes Highlight", sagt Cornelia Gütlich Doch auch für den Verein ist die eingespielte Kooperation in jeder Hinsicht ein Gewinn. So konnte der "Zigeunerbaron" von Johann Strauß schon einmal durch ein paar von den Ballettkindern dargestellte "Schweinchen" szenisch ergänzt werden.

Wie gut die Veranstaltungsauswahl der Kulturtage ankommt, erfahren die Gütlichs immer sofort - wenn sie am Ausgang ihr Publikum persönlich verabschieden. Dessen Alter liegt im Mittel bei "55 bis 60 plus", aber je nach Angebot seien auch ganz junge Leute dabei - "bei ,Hair' sind sie unglaublich textsicher von Anfang an mitgegangen!" Ebenso wie jene Dame von 94 Jahren, die sich regelmäßig einen Fahrdienst organisiert, weil sie zwar nicht mehr laufen kann, aber unbedingt dabei sein will.

Sicher spielt bei alledem auch das familiäre Flair eine Rolle, und das Bestreben der Poinger Veranstalter, eine "Wohlfühlatmosphäre" für alle zu schaffen. Was während der Pandemie, als nur Paare zusammensitzen durften, dann schon mal hieß, Einzelpersonen mit Gesellschaft zu versorgen: Etwa 50 liebevoll gemalte Pappkameraden, genannt "Kultina" und "Kultugo", füllten die Lücken auf herzerfrischende Weise auf.

Das letzte Geheimnis des Erfolgs der Poinger Kulturtage ist aber wohl die Einstellung der Familie Gütlich: "Man muss es lieben, und man muss es wollen, sonst macht man es nicht." Außerdem fügt Vater Michael lachend hinzu: "Und wir sind alle bereit, im Zweifelsfall aufeinander zuzugehen und uns ,gütlich' zu einigen."

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