Atelier-Hopping am WochenendeMehr als eine Ausstellung

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Genau hinschauen, das Wesen einer Person in wenigen Strichen erfassen, das kann wie kein Zweiter Siegfried Horst, den „der Mensch“ immer am meisten interessiert hat, wie er sagt.
Genau hinschauen, das Wesen einer Person in wenigen Strichen erfassen, das kann wie kein Zweiter Siegfried Horst, den „der Mensch“ immer am meisten interessiert hat, wie er sagt. (Foto: Siegfried Horst)

In gleich vier Orten – Poing, Markt Schwaben, Parsdorf und Anzing – öffnet das Kollektiv „Kunststoff“ nebst Gästen wieder sechs Werkstatt-Türen und ein Rathaus für den Kunstbesuch mit Dialog.

Von Michaela Pelz, Poing

Kunst kann ein einsames Geschäft sein – sowohl für den, der sie im stillen Kämmerlein betreibt als auch für all diejenigen, die sie allein für sich betrachten und wirken lassen. Ganz anders ist das an dem Mai-Wochenende, an dem die Gruppe Kunststoff traditionell zum Werkstatt-Hopping einlädt, mittlerweile schon zum 13. Mal.

Laut Sprecherin Inge Schmidt fanden in den vergangenen Jahren bis zu 1000 Besucherinnen und Besucher den Weg in die offenen Ateliers in Poing, Markt Schwaben und Parsdorf sowie ins Rathaus Anzing. Auch heuer wird es dort nicht nur Bilder, Fotografien, Skulpturen und Installationen zu erleben geben, denn die Kunstschaffenden selbst stehen auch zum Austausch bereit.

Für ihre Skulpturen ist Inge Schmidt bekannt. Hier handelt es sich um die Eisenskulptur „Bolero“. Sie gehört zu einer gleichnamigen malerischen Arbeit.
Für ihre Skulpturen ist Inge Schmidt bekannt. Hier handelt es sich um die Eisenskulptur „Bolero“. Sie gehört zu einer gleichnamigen malerischen Arbeit. (Foto: Inge Schmidt)

Zum Beispiel im Atelier am Osterfeld in Poing. Dort stellen sich gleich vier Künstlerinnen vor. Inge Schmidt etwa sieht in diesen unruhigen Zeiten die Notwendigkeit, sich und ihre Arbeit zu hinterfragen, eventuell sogar ihre Komfortzone zu verlassen. Wie ihr künstlerischer Ausdruck künftig aussehen wird, ist offen: „Gefällig, politisch, sinnfrei? Oder doch lieber poetisch?“

Rosemarie Hingerl hat ihre Malerei inzwischen gar auf Schwarz-Weiß reduziert.  Blumen und leuchtende Farben wie in den Vorjahren „waren diesmal in mir nicht zu finden“, erklärt sie. Angesichts von Krieg und anderen Katastrophen sei es schwer zu akzeptieren, dass „manche Dinge nie mehr so sein werden, wie sie einmal waren“. Und doch, fügt Hingerl hinzu: „Die Hoffnung bleibt“.

Keinen Farbrausch, sondern „Dunkles Land“ zeigt diesmal Rosemarie Hingerl.
Keinen Farbrausch, sondern „Dunkles Land“ zeigt diesmal Rosemarie Hingerl. (Foto: Rosemarie Hingerl)

Auch Cornelia Propstmeier hat sich mit Hoffnung und Harmonie beschäftigt, in Form der Farbe Grün, die beruhigt und entspannt. Mit ihren Bildern zeigt die Architektin, wie sich die Störungen der Natur auswirken. Mal seien diese marginal – da ein Strommast, dort ein Zaun –, doch oft verschwänden riesige Flächen unter Industrieanlagen, Straßen und Gebäuden. „Hinter uns liegen Felder, Wiesen, Wälder und Seen – was liegt vor uns?“, fragt sie sich.

Kornelia „Conny“ Boy wiederum möchte gar keine gedankliche Richtung vorgeben. Weil ihr künstlerisches Schaffen viel mit Gefühl zu tun habe, seien durch ihre Experimentierfreude mit Materialien wie Papier, Sand, Farbe, Gipsbinden und Leinwand „Bilder beziehungsweise Collagen in mystischer Abstraktion“ entstanden. Ganz ohne Titel.

Ottilie Geigl hingegen hat sich viele Gedanken gemacht über den passenden Namen für ihre Werke, die im Atelier Graga in Markt Schwaben vom Krieg zerstörte Gebäude zeigen: Vom zunächst angedachten Titel „ohne Worte“ kam sie zu „ohne Orte“.  Außerdem geplant: ein Erinnerungsort „Alois und Nikolaus – Feldpost von zwei Bauernsöhnen – Brüder meiner Mutter“ und eine mehrteilige Fotoarbeit mit dem Titel „Tote Blüten“.

„Diese kahlen, trostlosen Gerippe, die kurz davor noch Menschen Geborgenheit und Sicherheit gegeben haben, treffen mich immer wieder bis ins Mark“, sagt Ottilie Gaigl.
„Diese kahlen, trostlosen Gerippe, die kurz davor noch Menschen Geborgenheit und Sicherheit gegeben haben, treffen mich immer wieder bis ins Mark“, sagt Ottilie Gaigl. (Foto: Ottilie Gaigl)

Höchst lebendig ist hingegen der Efeu, mit dem Natalja Herdt in der ehemaligen Gärtnerei Gerstmayr in Markt Schwaben arbeitet: Die Pflanzen sollen an einer großen Leinwand hochklettern. Wie das Experiment am Ende funktioniere, könne man nie wissen, sagt die Multimedia-Künstlerin. „Ich schaffe die besten Bedingungen und nutze die Chance, um mit dem Gelände zu arbeiten. Mal sehen, was es hergibt.“ In die verlassene Gärtnerei eingeladen hat Herdt ihre Freundin Luisa Banov aus Ottobrunn. Diese geht in ihrer Serie „Star Dust“ mit einem eigenen Farbfotokopie-Verfahren der Frage nach: „Wie entscheidet sich die Pflanze, eine bestimmte Form anzunehmen?“

Nicht allzu weit davon entfernt, im Angerl 15, empfängt Stefan Pillokat das Publikum. Sein Metier ist die Kombination von Stein, Farbe und Holz, in seiner Skulpturarbeit sucht er nach „Formen der Zusammenkunft und Verbindung dieser Elemente“. Seine Arbeiten stellt er im Freien aus. Bei jedem Wetter.

Steine unterschiedlicher Größe, Farbe und natürlich Holz verarbeitet Stefan Pillokat zu immer neuen, anmutigen, aber auch überraschenden Gebilden.
Steine unterschiedlicher Größe, Farbe und natürlich Holz verarbeitet Stefan Pillokat zu immer neuen, anmutigen, aber auch überraschenden Gebilden. (Foto: Stefan Pillokat)
Lisa Mayerhofer hat ein Faible für Alltagsgegenstände – gerne dürfen sie spitz sein. Die martialische Anmutung ist kein Zufall.
Lisa Mayerhofer hat ein Faible für Alltagsgegenstände – gerne dürfen sie spitz sein. Die martialische Anmutung ist kein Zufall. (Foto: Lisa Mayerhofer)

Notfalls nass werden dürfen auch die Installationen von Lisa Mayerhofer, die als Gast ebendort anzutreffen ist. Die Miesbacherin hat ein Faible für Alltagsgegenstände und arbeitet daher nicht themen-, sondern materialbezogen. Dabei reizt sie alles, was „potenziell gefährlich, aber hintergründig“ ist wie Nägel, Nadeln, Gabeln.

Richtung Ortsausgang Markt Schwaben liegt das Atelier von Maria Heller. Unter dem Motto „Alles steht Kopf – in kopflosen Zeiten kopfüber hinein in die Kunst“ präsentiert sie kleinen Tonskulpturen. Als Gast ist Groxi eingeladen, ein Künstler aus dem Münchner Süden. Er zeigt „Bilder, die keine sind, und Skulpturen“, laut Selbstbeschreibung „politisch vermeintlich inkorrekt und liebevoll rassistisch.“ Man darf gespannt sein.

In Parsdorf stellt Ulrike Pfeiffer neue Drucke zum Thema „Archetypen der Seele“ aus. Etwa „Hermes oder Hekate als Ausdruck hilfreicher Helfer und Begleiter für schwierige Übergänge im Leben“. Schon zum zweiten Mal hat sie Frauke Schreiner zu Gast. Die Zornedingerin nutzt Ölpastelltechnik für ihre kleinformatigen Werke zwischen Zeichnung und Malerei, die Raum für eigene Entdeckungen lassen.

Ulrike Pfeiffers Werke, hier eine „Gefallene“, entstehen in experimenteller Drucktechnik mit verschiedenen Materialien wie Holz, Linoleum oder Styropor.
Ulrike Pfeiffers Werke, hier eine „Gefallene“, entstehen in experimenteller Drucktechnik mit verschiedenen Materialien wie Holz, Linoleum oder Styropor. (Foto: Ulrike Pfeiffer)

Vier Herren schließlich sind im Rathaus Anzing anzutreffen. Norbert Haberkorn widmet sich aufs Neue dem Thema „NothingButBlue“, das ihn seit 2019 begleitet. Dabei verwendet er für seine Werke alles, was ihm in die Finger fällt – Hauptsache, es ist in „der Farbe unseres Planeten … der Romantik, des Fühlens und der Sehnsucht.“ Den besonderen Blick von der Endmoräne richtung Alpen etwa hat Haberkorn in seiner Serie „Poinger Bergeslust“ mit Spraydose. Spachtel und Pinsel eingefangen.

Johannes Mayrhofer wiederum lässt den Zufall mitmischen. Je nach Farbmaterial oder verwendetem grafischen Mittel ergeben sich so reizvolle Strukturen – „ein schönes Chaos, ein bisschen wie Urknall“, sagt er, wonach freilich die ordnende Hand des Künstlers nötig sei, um daraus ein Bild entstehen zu lassen. „Vielleicht“, wie der Maler, Illustrator und Dozent augenzwinkernd hinzufügt.

„Geerdet“ nennt Johannes Mayrhofer dieses Werk.
„Geerdet“ nennt Johannes Mayrhofer dieses Werk. (Foto: Johannes Mayrhofer)

Alles andere als zufällig hingegen sind die ausdrucksstarken Köpfe von Siegfried Horst. Am meisten interessiert habe ihn immer der Mensch, sagt der 83-Jährige. Während der Pandemie ließ sich der Künstler von Medien und Büchern inspirieren. Insbesondere das Bildnis von Albrecht Dürers Mutter habe ihn sehr berührt und bestärkt, durch genaue Beobachtung wieder unterschiedliche Gesichter, Charaktere und Altersgruppen einzufangen. „Die Auseinandersetzung mit der Kunst, die eigene künstlerische Arbeit haben mir geholfen, ‚heil‘ durch die Coronazeit zu kommen.“

Der Blick in Peter Böhms Werkstatt zeigt, wie vielfältig seine besondere Kunstform ist.
Der Blick in Peter Böhms Werkstatt zeigt, wie vielfältig seine besondere Kunstform ist. (Foto: Peter Böhm)

Vierter im Anzinger Bunde ist Peter Böhm, mit immer neuen Varianten der von ihm erfundenen „vulc-art“, die auf Überschussgebilden aus der Gummiproduktion basiert. „Aleatorik“ nennt er das und weist damit auf die stets überraschenden Ergebnisse hin. „Die Motive sind auf fünf mal fünf Zentimeter großen Plättchen zu einem quadratischen Legespiel geformt, quasi Kunst zum Spielen, und das oder die Bilder lassen sich auch an die Wand hängen“, erklärt der gelernte Schreiner.

„Kunststoff“ – der Name des Kollektivs ist nicht nur Programm, sondern steht auch für eine kulturelle Vielfalt, die der Gruppe im vergangenen Jahr den Poinger Kulturpreis beschert hat. In der Laudatio hieß es, dass diese Künstlerpersönlichkeiten „das Leben der Gemeinde auf besondere Weise“ prägten. Das taten sie auch mit ihrem Einsatz des Preisgeldes: Es wurde in voller Höhe der Poinger Seerosenschule gestiftet.

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Die Gemeinde Poing hat zum dritten Mal ihren Kulturpreis verliehen – an gleich 13 Personen: Die Mitglieder des Kollektivs „Kunststoff“ laden jedes Jahr zur Schau in ihre Ateliers.

Von Michaela Pelz

Dieser Einsatz für die Jüngsten spiegelt sich auch in der Werkschau wider. Im Anzinger Rathaus nämlich gibt es heuer erneut eine Verlängerung: Am Montag, 19. Mai, werden alle Kinder der örtlichen Grundschule Gelegenheit haben, den Künstlern bei einem Besuch Fragen zu stellen oder sogar selbst kreativ zu werden.

Kunststoff: Offene Ateliers am Samstag, 17., und Sonntag, 18. Mai, jeweils von 14 bis 19 Uhr. Poing, Markt Schwaben, Parsdorf und Anzing. Die genauen Standorte finden sich in einer Broschüre, die auf https://kunststoff-art.de zum Download bereitsteht.

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