Grafinger Tauschzentrale:Die ewige Herrin der Schuhe

Grafinger Tauschzentrale: Ulrike Kunert (links) leitet den Verein der Elterngemeinschaft, der unter anderem die Grafinger Tauschzentrale betreibt. Dort arbeitet Gretl Borlinghaus seit inzwischen mehr als 45 Jahren ehrenamtlich.

Ulrike Kunert (links) leitet den Verein der Elterngemeinschaft, der unter anderem die Grafinger Tauschzentrale betreibt. Dort arbeitet Gretl Borlinghaus seit inzwischen mehr als 45 Jahren ehrenamtlich.

(Foto: Christian Endt)

Seit 1975 gehört Gretl Borlinghaus zum Team der Grafinger Tauschzentrale. Selbst mit inzwischen 90 Jahren bleibt sie ihrem Ehrenamt im Second-Hand-Laden treu - auch weil ihre Kundschaft sie fit hält

Von Katrin Kastenmeier, Grafing

"Wer einmal in der Tauschzentrale war, der bleibt", sagt Gretl Borlinghaus und bittet an einen großen Tisch, der zur Hälfte mit Kinderbüchern belegt ist. Fast könnte man sie hier übersehen, die kleine Frau mit langer Perlenkette, die beim Gehen mitschwingt. Vermutlich, weil sie quasi schon immer hier war, zwischen den vielen Sportartikeln, Kisten mit diversen Kleidungsstücken und Kinderspielzeug. Seit 1971 gibt es sie, die Tauschzentrale in Grafing, damals der erste Second-Hand-Laden seiner Art im Landkreis. Borlinghaus ist seit über 45 Jahren Teil dieses Konzepts, das zwei Mal pro Woche Kleidung, Schuhe und allerlei Weiteres rund um gebrauchte Familienausstattungen in Kommission nimmt und anschließend weiterverkauft. Weit über 35 000 Artikel werden jährlich umgesetzt. Eine organisatorische Herausforderung, die viel Zeit in Anspruch nimmt.

Zeit hat die mittlerweile 90-Jährige inzwischen genug. Deshalb kommt sie auch heute immer noch einmal pro Woche in die Räumlichkeiten am Grafinger Bahnhof und kümmert sich um abgegebene Stiefel, Sandalen und Sneaker. Rund eine gute Stunde ist sie jeden Mittwoch damit beschäftigt, die vielen Paare, die von den Kunden in Unordnung gebracht worden sind, wieder richtig zu sortieren. "Sie ist unsere Herrin der Schuhe", sagt Ulrike Kunert und zwinkert Borlinghaus zu. Kunert leitet den Verein der Elterngemeinschaft, der neben der Tauschzentrale auch Babysitter-Dienste, Kinderflohmärkte und Ferienprogramme organisiert. "Hier ist wirklich immer etwas los", sagt Borlinghaus und betont, dass sie diesen ständigen sozialen Austausch in der Frauencommunity über all die Jahre am meisten schätzt. Alleine sei sie hier nie gewesen. "Ich denke aus genau diesem Grund bin ich damals auch beigetreten", erinnert sich die 90-Jährige.

Damals, das ist vor fast 50 Jahren, als Gretl Borlinghaus nach Grafing kommt und sich hier erst einmal orientieren muss. Denn sie wächst rund 400 Kilometer weiter nördlich auf, im rheinländischen Bad Kreuznach. Hier macht sie nach der mittleren Reife eine Ausbildung zur Großhandelskauffrau und merkt schnell, wie viel Spaß ihr der Kontakt mit Kunden macht. "Während der Lehre habe ich auch viel über Elektronik gelernt", sagt sie. "Wir haben eine Radio-Beratung angeboten und mir wurde gezeigt wie man Lampen richtig aufhängt." Das sei für eine Frau damals schon etwas Besonderes gewesen und habe ihr ein Stück Unabhängigkeit gegeben. Auch in der Grafinger Tauschzentrale arbeiten bis heute nur Frauen. "Vielleicht ein Grund von Gretls Selbstbewusstsein", schmunzelt Kunert.

Als ihr Mann schließlich eine Stelle bei BMW bekommt und die beiden in den Süden ziehen, beginnt Borlinghaus eine Stelle als Bilanzbuchhalterin. "Zahlen machen mir bis heute Spaß, aber der tägliche Austausch mit Menschen ging mir dort schon deutlich ab." Sie sucht nach einem Anschluss in Grafing und findet ihn im Verein der Elterngemeinschaft. Die gemeinnützige Organisation bietet ihr nicht nur "Rat und Tat" bei Familienproblemen, auch wird es für Borlinghaus ein wertvoller Treffpunkt für Kontakte. Neben dem ehrenamtlichen Dienst in der Tauschzentrale organisiert sie noch eine weitere Gruppe in der Stadtbücherei, speziell für Frauen.

Zweimal pro Monat finden beim "Grafinger Frauentreff" Vorträge statt, die die gesamte Bandbreite kultureller, medizinischer und gesellschaftlicher Themen abdecken sollen. Über zwanzig Jahre lang sucht Borlinghaus ganz unterschiedliche Referentinnen und Referenten aus. "Eingeladen habe ich, was mich selbst auch interessierte." So wurden Einblicke in Themen wie "Vom Garten Eden zum Schreber Garten" mit Vorträgen einer Kunsthistorikerin möglich, Workshops über Akupunktur und Ernährung in der zweiten Lebenshälfte unter Anleitung einer Ärztin, bis hin zu gemeinsamen Ausflügen in die Münchner Pinakothek.

Das Interesse an der Welt um sie herum erkennt man noch heute, wenn Gretl Borlinghaus von vergangenen Veranstaltungen erzählt. Durch ihr Engagement ist sie vor Ort nunmehr sozial gut vernetzt, Kontakte hat sie zahlreiche. Trotzdem zieht es sie über die bayerischen Grenzen hinaus, sogar bis nach Frankreich. Seit 1993 pflegt Grafing eine Partnerschaft mit der französischen Stadt Saint Marcellin. Das Städtchen mit rund 8000 Einwohnern liegt in der Dauphiné zwischen Grenoble und Valence, Borlinghaus besucht es regelmäßig. "Daraus hat sich sogar eine Brieffreundschaft mit einer netten Dame ergeben", erinnert sich die 90-Jährige und bedauert sehr, dass ihre Korrespondentin mittlerweile verstorben ist. "Nicht nur meine Französischkenntnisse haben davon profitiert, es war auch immer schön wenn man sich gegenseitig besucht hat." Heuer bleibe sie aber ausnahmsweise mal zu Hause in ihrem Grafing, obwohl "die österreichischen Berge hätten mich schon sehr gereizt".

Wie es ihr gelingt so lange schon fit zu bleiben? "Ich wohne im vierten Stock ohne Aufzug", lacht Borlinghaus und verrät, dass sie neben einer regelmäßigen Gymnastik auch noch im Frauenkegelverein aktiv war. "Vor allem aber halten mich die Leute um mich herum jung", sagt sie und deutet auf die Kunden, die gerade in die Tauschzentrale strömen. Es ist kurz nach 16 Uhr und wie jeden Donnerstag ist heute für den Verkauf geöffnet. Ein Mädchen drückt sich am Tisch vorbei und steuert zielstrebig das Regal mit den bunten Spielsachen an. "Ein richtiger Mehrgenerationentreff", sagt Borlinghaus und strahlt dabei. Nur eines wirkt hier in der Tauschzentrale noch wie aus einer vergangenen Zeit. Rund um die 90-Jährige kommen die 40 Mitarbeiterinnen seither ganz ohne Digitalisierung aus. Auf großen Karteikarten wird händisch eingetragen, wann welches Kleidungsstück verkauft wird. Jede der ehrenamtlichen Helferinnen hat eine eigene, auf der gewissenhaft Buch geführt wird. Vielleicht ist auch das in gewisser Weise eine Hommage an Gretl Borlinghaus.

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