Grafing:Werner Kafka liest aus seiner Öxing-Chronik

Grafing: Der Autor Werner Kafka betrachtet sein Heimatdorf Öxing heute mit den Augen eines Jugendlichen.

Der Autor Werner Kafka betrachtet sein Heimatdorf Öxing heute mit den Augen eines Jugendlichen.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die große Welt im kleinen Dorf

Von Thorsten Rienth, Grafing

Kinder können so unglaublich konsequent sein. Deshalb presst der achtjährige Michael das Gewehr an die Kinderbacke, kneift das linke Auge zu und bringt das rechte in eine Linie mit Kimme, Korn und Helmuts Kopf. Der Scheunendachboden in dem Öxinger Hinterhof ist das Lager der Bande, Michael der Anführer und Helmut der Eindringling. Ein Knall, Helmut liegt im Staub, die Augen halb offen und nach oben gedreht. "Die Zeit hört auf zu vergehen."

Um solche Szenen vorzulesen ist Werner Kafka am Donnerstagabend in den Grafinger "Kastenwirt" gekommen. Die kurzen Sinnabschnitte, die sich erst zu Passagen, dann zu Geschichten und schließlich zu einer wahren Hommage an die Grafinger Heimat des Autors zusammenfügen, stammen aus seinem vor knapp zwei Jahren erschienenen historischen Roman. "Öxing - Die nicht ganz fiktive Chronik eines Dorfes".

Öxing war ein Dorf auf der Ostseite des Grafinger Urtelbachs. Mit der Gebietsreform wurde es zum Stadtteil. Im Jahr 1955 erblickte Kafka hier das Licht der Welt. "Es war wie ein kleines gallisches Dorf, das sich dem Fortschritt der Moderne nicht beugen wollte." Trotzdem reichte es für 440 Seiten - und reichlich lokalgeschichtlicher Komponenten, derentwegen Stadtarchivar Bernhard Schäfer den Autor zum Archivstammtisch einlud.

Herausgekommen ist eine literarische Fortsetzung von Michael Skasa's "Nix gehabt - und doch so viel erlebt." Während Skasa Geschichten zwischen Kriegsende und Wirtschaftswunder sammelte, schaute Kafka auf die 60er und 70er Jahre. Eine ländlichere und ältere, dafür aber umso liebevollere Variante von Sidos "Mein Block". Eine Welt, die nicht vom "ersten bis zum 16. Stock" reicht, sondern vom Dachboden bis raus aufs Feld.

"Nicht alles in dem Roman ist ganz wahr, aber alles hat einen wahren Kern", erklärte Kafka. Die Wahrheit habe er ein bisschen angepasst. "Aber so, dass sie immer noch glaubwürdig ist." Es folgen Geschichten über die alte Hebamme, die unzählige Öxinger Kinder auf die Welt gebracht hat - dann aber einsam und alleine im Sterbebett liegt. Geschichten von kleinen Jungs, die sich gegenseitig zum Nacktschneckenessen anstiften. Von denen, die in der kleinen Straße die Könige sind, wenn im Kinderzimmer ein Plattenspieler steht. Der Leser wird schließlich zusammen mit Kafka erwachsen: Die Psychedelic-Szene, Okkultismus und Deep Purple's "Child in Time". Die Nacht am Lagerfeuer und Kafka, der im Rausch ins nächste Zelt krabbelt, sich unbeholfen an die Klassenkameradin kuschelt, die schon längst eingeschlafen ist.

Seine Erinnerungen erzählt Kafka in einer Sprache, die die Welt von einst mit einem kleinen Augenzwinkern betrachtet. Irgendwie sei die Schreiberei auch für ihn eine erhellende Sache gewesen. "Es war so, als hätte ich die große Weltgeschichte im kleinen Öxing verstehen gelernt."

Der Bub, der im Sommer 1963 den Abzug drückte, heißt Michael Hirschläger. Er brachte es zum Malermeister und Stadtrat - und saß auch im "Kastenwirt" im Publikum. Ein Mörder sei er aber keinesfalls, erklärte Kafka. "Das war kein richtiges Gewehr, sondern ein altes Luftgewehr" und Lausbuben mit Luftgewehr - "das war damals halt eine total normale Sache."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: