Wohl nur selten gehen die Meinungen über ein Gebäude so weit auseinander wie im Falle der Grafinger Stadthalle. Für viele am Ort ist das Haus aus den 80ern ein seliger Hort bewegter Jugenderinnerungen, für manchen sogar - mit Blick auf das Rathaus am Marktplatz - ein architektonisches "Gesamtkunstwerk". Andere wiederum sehen in der Halle vor allem eine Geldvernichtungsmaschine, oft verbunden mit dem Hinweis auf ihre ästhetische Zweifelhaftigkeit. "Stellen Sie sich vor, man hätte in der DDR versucht, eine Skihütte zu bauen." So hat ein österreichischer Kabarettist die Außenwirkung des Grafinger Veranstaltungsortes einmal beschrieben.
Kein Wunder also, dass über die Stadthalle, ihren Zweck und ihren Zustand, seit Jahren gestritten wird. Und nun kommt zu den vielen unglücklichen Kapiteln noch ein weiteres hinzu: Sebastian Schlagenhaufer, der künstlerische Leiter des Hauses, hat gekündigt, ab Dezember wird er kein Angestellter der Stadt mehr sein. Obwohl vor sechs Jahren hoch motiviert als Retter dieses umstrittenen Veranstaltungsortes angetreten, hat der 42-Jährige sich nun gegen eine Fortführung dieses Projektes entschieden. Doch warum? "Manchmal muss man eine Entscheidung treffen - und ich möchte nicht nachtreten", sagt Schlagenhaufer, der selbst in Grafing wohnt. Doch wer die hiesige Kulturpolitik ein wenig verfolgt habe, könne sich die Gründe für seine Kündigung "ja an drei Fingern abzählen".
Also, blicken wir zurück. Im November 2014 wird Schlagenhaufer im Rathaus mit offenen Armen empfangen, denn in der Kulturarbeit der Stadt herrscht bereits seit langem ein unübersehbares Vakuum. Die Stadthalle wurde bis dahin vor allem von externen Veranstaltern gemietet, zuletzt war ein Institut für Internationales Kulturmanagement aus München für den Spielplan zuständig - mit nicht allzu großem Erfolg. Das heißt: Es gab generell nicht viele, und erst recht nicht viele gut besuchte Veranstaltungen, vom Fasching mal abgesehen. Das große Haus kostete die Grafinger also viel Steuergeld, warf aber wenig Erquickliches ab - so dass im Stadtrat immer wieder über die Notwendigkeit des Kostenfaktors Kultur diskutiert werden musste.
Deshalb kommt die Bewerbung Schlagenhaufers wie gerufen. In der Stadt verwurzelt, selbst Künstler durch und durch, bestens vernetzt und höchst engagiert: Wer, wenn nicht er, könnte den Karren aus dem Dreck ziehen? Er verspricht, aus dem Programm der Stadthalle wieder eine echte Grafinger Angelegenheit zu machen, neue inhaltliche Akzente zu setzen und so die chronisch defizitäre Einrichtung zu beleben, sprich: sie auch aus den dunkelroten Zahlen zu holen. Und siehe da, das Kunststück gelingt. Unter Schlagenhaufers Regie wird das Angebot um einiges bunter und breiter, im Spielplan findet sich Kindertheater genauso wie Lesungen, Multivisionen, Konzerte, Kabarett oder Volkstheater. Und die Publikumszahlen gehen deutlich nach oben.
Für die wiederbelebte Turmstube entwickelt der neue Intendant eine Reihe nach der anderen
Der größte Coup aber ist, dass der neue Intendant die seit langem leer stehende Turmstube in eine Kleinkunstbühne verwandelt, um neben den Veranstaltungen im großen Saal auch intimere Formate anbieten zu können. Eine Möglichkeit, die Schlagenhaufer rege zu nutzen weiß, im Lauf der Zeit entwickelt er eine neue Reihe nach der anderen. Im Turm gibt es bald Jazz-Sessions, Mixed Shows, Literarisches, Pub-Quiz-Abende, Poetry- sowie Science-Slams und History-Talks. Dieser Kulturmanager denkt so lokal wie kreativ, aber auch wirtschaftlich. Und wuppt das alles, man glaubt es kaum, in Teilzeit.
2019 dann der erste Schock: Das Landratsamt droht, die Stadthalle zu schließen, wegen erheblicher baulicher Mängel, vor allem geht es um den Brandschutz. Im Laufe der architektonischen Analysen kommen jedoch noch einige Probleme mehr ans Tageslicht, so dass tatsächlich bald die Frage im Raum steht, das Gebäude abzureißen und neu zu bauen, anstatt es zu sanieren. Und Schlagenhaufer äußert sich in der Debatte deutlich: Es gebe "viele Dinge, die könnte man in einer neuen Halle besser lösen", sagt er. Und so oder so wünscht er sich, kulturpolitisch neue Weg gehen zu können, denkt laut über ein Bürgerhaus nach oder über Sommerveranstaltungen auf dem Volksfestplatz.
Obwohl er kein Freund der Sanierung ist, bemüht sich Schlagenhaufer, das Beste aus der Situation zu machen
Doch Schlagenhaufers Rufen verhallt offenbar weitgehend ungehört. Der Stadtrat entscheidet sich angesichts der drohenden Schließung der Stadthalle für eine "Minimalsanierung plus" - die sich in der Folge verzögert und verteuert, wie könnte es in diesen Zeiten auch anders sein. Momentan hofft man auf eine Wiedereröffnung Ende dieses Jahres. Und Schlagenhaufer? Versucht sich zu arrangieren und das Beste aus der Situation zu machen - zuletzt schickt er die Kultur sogar "on Tour", lässt sie in diversen Kneipen und anderen Räumen der Grafinger Innenstadt spielen. Erst am Donnerstag gab es wieder eine der beliebten Mixed Shows - im Kastenwirt.
Mit demselben Engagement, gepaart mit Flexibilität, begegnet Schlagenhaufer auch den bis dato völlig undenkbaren Verwerfungen der Pandemie. Der Grafinger Kulturmacher stürzt sich wie viele seiner Kollegen in einen Strudel aus Buchung, Umbuchung und Stornierung, beginnt, sein Publikum online zu bespielen, klammert sich an jede noch so kleine Hoffnung. Sogar gänzlich Neues bringt Schlagenhaufer in der allergrößten Not auf den Weg: Er sucht den Schulterschluss mit Kollegen, gründet ein landkreisweites "Kulturkartell", initiiert kulturpolitische Appelle an regionale Abgeordnete und organisiert sogar die Anschaffung einer mobilen Bühne, dank derer der Landkreis Ebersberg trotz aller Corona-Beschränkungen einen "Kultursommer" erleben darf.
Die mobile Bühne fährt nur einen Sommer lang durch den Landkreis, danach wird sie in Grafing geparkt
Durch interkommunale Kooperation möglichst vielen Menschen an möglichst vielen Orten verschiedene Veranstaltungen zu bieten - das ist Schlagenhaufers hehres Ziel. Doch der Landkreis will sich das Projekt nicht länger ans Bein binden und verkauft den Bühnen-Trailer bereits nach einem Jahr weiter - ausgerechnet an die Stadt Grafing. Durch diesen Schachzug aber fällt das Projekt aus der Förderung des Bundes, so dass die mobile Spielstätte unerschwinglich wird für die allermeisten anderen Veranstalter. Aus der Traum von einer nachhaltigen Belebung der ganzen Ebersberger Szene.
Nun also nimmt der Intendant der Grafinger Stadthalle seinen Hut. Der 42-Jährige wechselt zum Museum Fünf Kontinente in München, um dessen Kulturvermittlung und Veranstaltungen er sich künftig kümmern wird. Er freue sich auf spannende Themen wie Raubkunst genauso wie auf geregelte Arbeitszeiten, sagt er. Außerdem hege er die Hoffnung, dann auch wieder mehr Zeit und Energie für eigene kreative Projekte zu haben, gerade die "Operation Heil-Kräuter" sei momentan sehr gefragt. Zusammen mit dem Pianisten Ramon Bessel widmet sich Schlagenhaufer in diesem Programm der Kabarettszene zur Zeit des "Dritten Reichs".
Und wie hat der Bürgermeister auf die Kündigung reagiert?
Bleibt nur eine Frage offen: Wie hat Grafings Bürgermeister auf die Kündigung seines Kulturmanagers reagiert? "Überrascht", sagt Schlagenhaufer. "Und nicht so entspannt, wie er sonst immer ist." Klar, denn die Stadt muss jetzt jemand Neuen suchen, der sich jenseits von Fasching und anderen Vereinsveranstaltungen um das Programm in der Stadthalle kümmert. Und ob sich da nochmal jemand von Schlagenhaufers Kaliber findet, darf durchaus bezweifelt werden. Egal, wie man also zur Stadthalle als Gebäude steht: Dass sie nun bald auch inhaltlich eine Baustelle sein wird, kann niemand gut finden.