Grafing:"Ertrage einer den anderen"

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Kerzen, Liedblätter, Gesang: 80 Menschen kommen am Montagabend auf dem Vorplatz der evangelischen Auferstehungskirche in Grafing zusammen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In Grafing kommen 80 Personen zu einer ökumenischen Andacht zur "Besinnung" im Freien zusammen. Wenige hundert Meter entfernt treffen sich parallel die "Montagsspaziergänger". Über einen Abend, der an gute alte Zeiten erinnert.

Von Korbinian Eisenberger, Grafing

Die Achtsamkeit beginnt mit den Kerzen auf dem Boden. 50 von ihnen erleuchten den Vorplatz der Auferstehungskirche und erinnern die Menschen daran, dass ein einziger falscher Schritt umwerfende Wirkung haben kann. Gelingt es den 160 Menschenschuhen und acht Hundepfoten, die Lichter zu verschonen?

19 Uhr in Grafing, Montagabend. Vor der evangelischen Auferstehungskirche stehen zwei Pfarrer, eine Pfarrerin und um die 80 Gäste aus dem Ort. In Grafing brennen Kerzen, keine Fackeln. Auch nicht dort, wo man es vielleicht vermuten könnte.

Eine Viertelstunde zuvor, gleicher Abend, gleicher Ort: Drei Gehminuten von der Kirche findet wie seit längerem an Montagabenden eine, wenn man so will, Gegenveranstaltung statt. Auch hier haben sich Menschen versammelt, Montagsspaziergänger lautet gemeinhin die Bezeichnung. In diesen Momenten aber spaziert hier niemand.

Die Kirchenglocken läuten. Kurz vor 19 Uhr. Was wird passieren?

In Grafing kommen 80 Personen zu einer ökumenischen Andacht zur "Besinnung" im Freien zusammen. Wenige hundert Meter entfernt trifft sich parallel die Opposition, eine ähnlich große. Ein Polizeiauto kreist durch die Grafinger Innenstadt. Im Kirchturm beginnt das Glockenläuten. Es ist kurz vor 19 Uhr. Was wird passieren?

Zur Andacht stehen die Menschen im Kreis, ausgestattet mit Liedblättern. Einige ältere Teilnehmer hocken auf dem Eckbankerl, die beiden Foxterrier-Hunde auf dem Boden. "Wir sorgen uns um den Frieden in der Gesellschaft", sagt Ghita Lenz-Lemberg, die evangelische Pfarrerin aus Glonn durchs Mikrophon. "Auch wenn wir zum Teil völlig unterschiedliche Meinungen haben, darf es nicht in Hass und Streit ausarten", sagt ihr katholischer Kollege der Grafinger Pfarrkirche, Anicet Mutonkole-Muyombi. Der dortige evangelische Pfarrer Axel Kajnath erklärt: "All das erinnert uns daran, wie zerbrechlich unser Leben ist."

Der katholische Pfarrer Anicet Mutonkole-Muyombi spricht, der evangelischer Pfarrer Axel Kajnath leuchtet, die evangelische Pfarrerin Ghita Lenz-Lemberg spricht kurz darauf. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Einige hundert Meter entfernt auf dem Marktplatz gibt es ebenfalls Hinweise auf menschliche Vergänglichkeit. Das Kriegerdenkmal mit der Aufschrift "Gedenket unsere Gefallenen". Danach kommt der Maibaum mit dem Schild "Narrenbaum der Grafinger Faschingsbären. Mia lassn uns ned untergriagn". Und danach kommt die Gruppe der Spaziergänger, die immer noch verharren und in diesem Moment in ersten Linie wirken wie eine Gruppe stehende, miteinander sprechende Menschen.

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da gab es im Landkreis Ebersberg ein ähnliches Szenario. Am 4. Februar 2021 hatten sich in Poing 110 Gegendemonstranten versammelt. Eine Gegendemo zu den regelmäßigen Coronakritker-Versammlungen zwei Straßen weiter. Auf beiden Veranstaltungen wurde verbal scharf gegen die jeweils anderen argumentiert. Seit diesem Donnerstagabend sind ein Jahr und zehn Tage vergangen.

"Ertrage einer den anderen, wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr."

Die hier stehen, fallen dadurch auf, dass sie nicht auffallen. Keine Schilder, keine Fackeln, keine großen Botschaften. Die Menschen stehen, vielleicht etwas nah beieinander, aber gut, im Freien, und unterhalten sich. Mütter, Väter, Greise, ganz Junge. Unzufriedenheit ist zu vernehmen, Überforderung, Überlastung. Vielleicht stehen auch politisch Motivierte unter den Leuten, vielleicht sind es nur wenige. Eines fällt noch auf: Immer wieder fällt das Wort "Normalität". Nicht weniger, nicht mehr. Wäre nicht Corona, man würde denken: Hier stehen Leute vor der Bäckerei Kreitmaier beisammen und trinken heißen Punsch.

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Auf dem Vorplatz der Kirche in Grafing versammeln sich seit längerem regelmäßig Gegner der Corona-Politik. Nun hat Pfarrer Anicet Mutonkole-Muyombi ihnen den Zutritt verweigert. Ein Gespräch über seine Gründe und die Glaubwürdigkeit des Glaubens.

Interview von Korbinian Eisenberger

Zurück vor der Auferstehungskirche. Noch immer brennen die Kerzen, noch immer harren die beiden Foxterrier artig aus. Halleluja-Gesang verhallt in der Grafinger Nacht. Pfarrerin Lenz-Lemberg ergreift das Wort und ermutigt zu "einem vorsichtigen Umgang wegen der Infektionsgefahr". Dies sei "wichtig, um nicht nur uns, sondern auch andere zu schützen". Pfarrer Mutonkole-Muyombi zitiert Apostel Paulus. "Ertrage einer den anderen, wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr."

Der Marktplatz ist inzwischen leer, als wäre nichts gewesen. Während von der evangelischen Kirche Gesangsfetzen durch die Gassen wehen, werden die Spaziergänger nun ihrer Bezeichnung gerecht. Beamte der Polizei Ebersberg leiten die Gruppe nun über eine gewohnte Route: Grießstraße, Schloßstraße, Hans-Eham-Platz, Lagerhausstraße und zurück zum Marktplatz. Die Gruppe wächst auf bis zu 178 Personen an, erklärt die Polizei. Alles "störungsfrei".

Montagsspaziergänger unterwegs in Grafing. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Später am Abend versammelt sich eine dritte Gruppe in Grafing

Aus der Ferne ist noch zu erahnen, wie der evangelische Pfarrer Kajnath an diesem Valentinsabend an die "Kraft der Liebe und der Besonnenheit" erinnert. Die Besinnungs-Andacht ist vorbei. Ein paar Hausecken weiter geht es indes vielmehr um Besinnungslosigkeit:

Gegenüber der katholischen Pfarrkirche St. Ägidius hat sich eine weitere Menschengruppe versammelt. Die kleinste Gruppe an diesem Abend. Ein Knäuel aus sechs Personen: Jugendliche mit strähnigen Haaren, Kapuzen und Löchern in den Jeans, die genau da hingehören. Vielleicht haben sie eine Flasche dabei, für die sie noch zu jung sind. Und so endet dieser Abend in Grafing mit einem Bild wie aus scheinbar vergangenen Zeiten, ein Bild von Normalität.

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