Fünf Seniorinnen, die sich mit einem zwei Meter langen Hai aus Pappmaché durch die Stadt bewegen - das ist selbst für die sonst so gelassenen Grafinger ein eher ungewöhnlicher Anblick. Dabei könnte man die eine oder andere Dame durchaus erkennen, denn einige sind schon seit vielen Jahren Teil der Seniorentheatergruppe Kaleidoskop, die seit ihrer Gründung 2009 mindestens einmal jährlich ein neues Stück in Altersheimen, aber auch dem Kleinen Theater in Haar oder der Stadthalle Grafing zur Aufführung brachte.
Seele und Mastermind des Ganzen ist Gabi Sabo. Die promovierte Theaterwissenschaftlerin, Regisseurin und Dramaturgin hatte bis zum Zeitpunkt der Idee, Stücke mit Bewohnern des Seniorenhauses und anderen betagten Menschen auf die Bühne zu bringen, nur entweder mit Profis oder mit Kindern gearbeitet. Doch mit ihrer sanften Art und Rollen, die sie ihnen passgenau auf den Leib schrieb, ermutigte die zierliche 57-Jährige, die hauptberuflich die PR-Agentur "Kulturbananen" betreibt, Seniorinnen und Senioren, sich ohne Hemmungen vor Publikum zu präsentieren.

Dessen Applaus habe sie sehr genossen, verrät Josefine Klein, als man sich im angemieteten Probenraum, einer früheren Holzwerkstatt, trifft. 1935 in Grafing geboren, lebte die energische Dame lange im Ausland. Kurz nach ihrer Rückkehr 2012 stieß sie zu der Theatergruppe, nachdem ihr eine Freundin davon erzählt hatte. Was Klein vor allem begeistert, sind Gabi Sabos Ausdauer und Geduld.
Eigenschaften, zu denen sich in Corona-Zeiten noch jede Menge Erfindungsreichtum hinzugesellte. Denn nicht nur waren regelmäßige Proben dann schwierig bis unmöglich, es fielen auch immer wieder Akteure aus, weil sie erkrankten. Wie hätte man da etwas einstudieren können, das die Anwesenheit eines kompletten Ensembles erfordert?

Also beschlossen Sabo und ihr Mann Carlton Bunce, unter dem Namen "Oldywood Filmproductions" eine andere Form des darstellenden Spiels zu praktizieren. Der gebürtige Waliser, der seit mehr als 30 Jahren in Bayern daheim ist, kennt sich als Autor, Schauspieler, Musiker, Fotograf und Regisseur mit dem Metier hervorragend aus - und schnell war die Idee für "Krambolage" geboren: ein Streifen, der zunächst im Dokufiction-Gewand daherkommt, sich aber bald als Hommage an Brecht erweist.
Immer wieder gibt es dabei augenzwinkernde Adaptionen mit aktuellen Bezügen
Im Zentrum dieses Films im Film steht eine Laienspielgruppe, die aufgrund der Pandemie plötzlich zu einem Filmteam werden muss. Auf der Suche nach einem passenden Stoff wühlt sie sich durch die Werke von Bertold Brecht und beginnt sich erst zu fragen, warum dessen Stücke in letzter Zeit in Vergessenheit geraten sind, und dann, was eigentlich daran heute noch so interessant und relevant ist.
Weil sich immer mehr das Thema "soziale Gerechtigkeit" als ein zentrales Element herauskristallisiert, entscheidet man sich unter anderem für eine abgeschlossene Szene aus dem "Kaukasischen Kreidekreis". Daran beteiligt: Richter Azdak, einer der wenigen Vertreter dieses Berufstandes, "der sein persönliches Moral- und Gerechtigkeitsverständnis zur Anwendung bringt", wie Sabo erläutert. Sie und Bunce zeichnen für das Drehbuch verantwortlich, in dem die Originalzitate in die Rahmenhandlung eingebunden sind.
Immer wieder gibt es dabei augenzwinkernde Adaptionen mit aktuellen Bezügen. So findet man bei Brecht zwar den Hai, aber an ganz anderer Stelle. Oder die Szene mit dem Lastenfahrrad, das die Regisseurin gerne dabeihaben wollte, weil sie Mitglied der Grafinger Autoteiler ist, denen es gehört.

Auf dem E-Bike sitzt als "Schauwa" Eva Halm, der die ihr zugewiesene Hosenrolle zunächst gar nicht so leicht fiel. Für die 72-Jährige ist die Schauspielerei ein Hobby, das allen viel abverlange. Jeder müsse eine glaubhafte Darstellung abliefern - was nur gelinge, weil "die Rollen immer Elemente unserer eigenen Persönlichkeit enthalten". Das sei definitiv Verdienst von Gabi Sabo.
Nur in einem Nebensatz erfährt man, dass deren Leitung von "Kaleidoskop" praktisch ehrenamtlich erfolgt. Was auch für den Einsatz von Partner und Kameramann Bunce gilt. Die für Dreharbeiten nötige Technik konnte teilweise aus Mitteln des SZ Adventskalenders, mit einem kleinen Beitrag vom Seniorenhaus, vor allem aber mit Hilfe des Bundesprogramms "Neustart Kultur" angeschafft werden. Bis Ende September soll dem entsprechenden Gremium der Rohschnitt präsentiert werden. Zu dem auch ein ganz spezieller Soundtrack gehören wird, produziert von den internationalen Mitgliedern des Projekts "Organon - Sound of Mind", für das Sabo und Bunce ebenfalls verantwortlich zeichnen. Bis es soweit ist, liegen aber noch einige Drehtage vor den Darstellerinnen.
Nicht alle Schauspielerinnen haben durch Mundpropaganda zu der Gruppe gefunden - bei Renate Müller war es ein Zeitungsartikel. "Die Enkel waren größer, brauchten mich weniger, und ich wollte etwas für mich machen", erklärt die 75-Jährige ihre Motivation, 2015 dazuzustoßen. Obwohl die gebürtige Hessin durch ihre verschiedenen Berufe im pädagogischen Bereich und Einzelhandel viel Erfahrung im Umgang mit Menschen und auch im freien Sprechen hat, bleibt das Theaterspiel für sie eine Herausforderung - verbunden mit viel Spaß. Den spürt man auch bei Irmgard Niederreiter, obwohl sie sich selbst als "Teilzeitkraft" bezeichnet. Schon im vergangenen Jahr sei sie dabei gewesen, so die 86-Jährige, die früher im Goethe-Institut und in der Bibliothek des Gymnasiums gearbeitet hat. "Ich werde geholt, wenn jemand gebraucht wird."

Manchmal entsteht diese Notwendigkeit auch aus einem traurigen Grund heraus. In einer Drehpause sprechen alle liebevoll von einer sehr wichtigen Kollegin, die leider vor einiger Zeit verstorben ist. "Eine großartige Schauspielerin, sehr talentiert, dabei witzig und klug", sagt Bunce. Unbedingt habe Annemarie Volk ihre noch verbliebenen Szenen abdrehen wollen, während sie schon auf der Palliativstation lag. "In dieser allerletzten Zeit ihres Lebens wollte sie uns noch etwas geben! Sie war eine große Inspiration für alle", ergänzt Sabo mit einem wehmütigen Lächeln. Und während davon erzählt wird, wie die Schwerstkranke beim Dreh noch einmal richtig auflebte, spürt man, dass diese Gemeinschaft viel mehr ist als ein Theater spielendes Damenkränzchen.

Doch weil Freud und Leid hier, wie im echten Leben, dicht beieinanderliegen, gibt es am Ende des Setbesuchs noch eine heitere Episode. Bevor die letzte Einstellung des Tages im Garten von Gabi Sabo und Carlton Bunce ansteht, erzählt Nana Helfrich kichernd vom letzten Mal, als sie mit Gummistiefeln bis zum Bauch im Urtelbach stand. "Nei kumma bin i do scho, aber fast nimmer raus!" Das habe daran gelegen, dass sowohl die Schuhe als auch das untergelegte Brett rutschig gewesen seien. "Also hat Carlton gezogen, und Gabi geschoben, und so war ich am Ende doch wieder draußen", ergänzt die 80-Jährige mit sichtlichem Vergnügen ihren Bericht.

Diesmal gelingt der Ausstieg aus dem Bach wesentlich leichter, die alte Dame zeigt eindrucksvollen Körpereinsatz. Kein Wunder: Mit dem Theaterspielen hat Nana Helfrich die meiste Erfahrung, ist sie doch schon seit gut zwölf Jahren dabei. Zwar habe sich im Lauf der Zeit die Zusammensetzung immer wieder verändert, es sei aber immer eine gute Truppe, erzählt die frühere Verwaltungsangestellte, die beim Weg ins Zentrum von Grafing mit ihrem Rollator vorneweg dabei ist. Für Helfrich hat das Spiel eine ganz besondere Bedeutung: Nicht nur genieße sie es, in immer neue Rollen zu schlüpfen, sie könne dabei auch die Schmerzen vergessen, die sie seit einer Rückenoperation habe. "Es wäre sicher auch für viele andere aufbauend und gut für die Seele. Schade, dass sich nicht mehr trauen, auf die Bühne zu steigen", sagt die 80-Jährige.
Neue Mitspieler sind immer herzlich willkommen - auch männliche
Ja, Nachwuchs wäre schön, bestätigt Sabo. "Gerne auch Männer. Die haben ganz andere Ideen und eine andere Körperlichkeit, da kann man viel machen." Vorkenntnisse seien keine nötig, nur Neugier, Offenheit und der Wunsch, das Spielen auszuprobieren. Ach ja, Zeit müsse man natürlich haben und dabeibleiben wollen. Nachlassende körperliche Fähigkeiten hingegen sind kein Problem, die werden ins Spiel integriert - wie bei dem Darsteller, der nicht mehr laufen konnte und dann im Rollstuhl sitzend "einen sehr überzeugenden Berg verkörpert hat". Bei schwindender Merkfähigkeit gibt es Möglichkeiten, unbemerkt ins Manuskript zu spicken oder in regelmäßigen Abständen von der Bühne abzugehen. Beim Filmen ist es noch einfacher, denn gedreht wird ohne Ton. Dieser wird dann erst später über die Bilder gelegt. Ob der Hai wohl auch eine Stimme bekommt?
Wer einen Einblick bekommen will: 2021 hat "Oldywood" für die Stadt einen Kurzfilm über das Älterwerden in Grafing produziert: https://www.grafing.de/kultur-bildung-soziales/senioren.html