Grafing:Nach dem Krieg fing das Elend an

Grafing: Nach Kriegsende hatte Irma Janisch ständig Angst, vergewaltigt zu werden. "Das war schrecklich", sagt sie über die damalige Zeit.

Nach Kriegsende hatte Irma Janisch ständig Angst, vergewaltigt zu werden. "Das war schrecklich", sagt sie über die damalige Zeit.

(Foto: Christian Endt)

"Wir waren vogelfrei": Irma Janisch lebte im Sudetenland, als Deutschland kapitulierte. Die ersten Wochen danach verbrachte sie damit, sich vor russischen Soldaten zu verstecken. Dann floh ihre Familie

Von Sara Kreuter, Grafing

Sie war eine attraktive Frau: jung, blond, gebildet. Gefährliche Attribute im Frühjahr 1945, vor allem im Sudetenland. Dort lebte Irma Janisch in einem kleinen Dorf, bis man sie nach Kriegsende aus ihrer Heimat vertrieb und sie nach Grafing kam. Die Schrecken des Krieges und die der Zeit danach haben sich der 92-Jährigen ins Gedächtnis gebrannt. "Ich bin eine Ausnahme", sagt sie, "weil ich lebe, weil ich so alt bin - und weil ich davon gekommen bin".

"Der Krieg mit all seinen Toten, der Not und dem Leid war furchtbar", berichtet die Zeitzeugin. Viele Familien in ihrer Nachbarschaft hatten Familienangehörige verloren, Kommilitonen waren gefallen, die Angst um ihre beiden Brüder war groß. Und trotzdem: Irma Janisch ging es verhältnismäßig gut während der Kriegsjahre. Die meiste Zeit verbrachte sie als Studentin unter anderem in Prag. Zu Essen hatten sie und ihre Familie auch, nicht übermäßig, aber ausreichend, aus dem Ertrag der eigenen kleinen Landwirtschaft ihrer Familie. Die damals 23-Jährige sehnte sich zwar ebenso wie der Rest der Welt das Kriegsende herbei und freute sich mit den anderen, als das Radio am 8. Mai die bedingungslose Kapitulation Deutschlands verkündete - "aber dabei haben wir uns die ganze Zeit gefragt, was uns die Zukunft bringen würde". Schließlich lag das Sudetenland in der russischen Besatzungszone. Und der schlechte Ruf der russischen Armee eilte den Besatzern voraus: "Die Russen waren natürlich scharf auf die jungen Mädchen", erklärt Irma Janisch. Und so kam es, dass für sie das Elend begann, als der Krieg vorbei war.

Als die Soldaten in ihrem Dorf einmarschierten, begann eine schreckliche Zeit für die Einwohner - vor allem für die jungen Mädchen. Jeden Tag, wenn die Russen durch das Dorf patrouillierten, liefen die Frauen auf die Felder und versteckten sich dort, manchmal auch in der Kirche oder im Pfarrhaus, wo es einen Hohlraum unter dem Holzboden gab. Die Nächte verbrachten sie verborgen auf den Speichern. "Furchtbar war das, Nacht für Nacht, Woche für Woche." Die Angst vor einer Vergewaltigung war übermächtig. Einmal, erinnert sich Janisch, lag sie eng neben einer Freundin im Getreidespeicher. Direkt unter ihnen lief ein Soldat auf und ab. Die beiden jungen Frauen standen schreckliche Ängste aus. Sie wussten, selbst das leiseste Husten konnte sie verraten, und dann war es um sie geschehen.

"Wir lebten damals nur, um zu überleben", sagt Janisch. Die Tage reihten sich aneinander und brachten nichts als Qual und ewiges Bangen um die eigene Sicherheit. Viele sahen damals den einzigen Ausweg in der Flucht aus der Heimat - oder der Flucht in den Tod. Die Zahl der Selbstmorde nahm rapide zu, ganze Familien wählten gemeinschaftlich den Freitod. "Das war schrecklich", sagt Janisch. "Einfach nur schrecklich." Sie schweigt. 70 Jahre sind eine lange Zeit, aber die Erinnerungen verfolgen sie immer noch. Was Irma Janisch damals erlebte, hat ihr gesamtes Leben geprägt. Filme über den Krieg sieht sie sich bis heute nicht an. Sie erträgt es nicht.

Das Leben eines Deutschen war wenig wert in dieser Zeit. "Wir Deutsche waren damals die großen Verlierer, wir waren vogelfrei", berichtet die Zeitzeugin. Man zwang sie, eine Binde mit der Aufschrift "N" zu tragen. Damit war sie für jedermann als "Němec", als Deutsche, gekennzeichnet.

Ein Tscheche besetzte wenige Wochen nach Kriegsende ihr Haus, Janisch und ihre Familie wurde aus ihrem Heimatdorf vertrieben. "Wir haben damals alles verloren", berichtet Janisch. Lediglich 50 Kilogramm gestatteten ihnen die Sieger - kaum genug für Teller und Besteck, das Federbett, einige wenige Kleider und Fotos.

Janisch war dem Schicksal einer Vergewaltigung durch die russischen Soldaten entkommen, aber harte Jahre und eine lange Reise durch Deutschland standen ihr bevor. Nicht weit von ihrem Heimatort entfernt mussten Janisch und ihre Mutter unentgeltlich für einen tschechischen Bauern arbeiten. Später, ein Jahr nach Kriegsende, brachte man sie in ein Lager in Wildenschwert in Ostböhmen. Von dort ging es in einen Viehwaggon weiter über Furth im Walde bis nach Haar. "Wir hatten großes Glück, dass wir nach Bayern gekommen sind", erklärt Janisch. In München arbeitete sie zunächst bei einem bayerischen Bauern, später wusch sie Teller für einen Amerikaner. Das Land und ihre Seele erholten sich langsam von den schlimmsten Schrecken der vergangen Kriegsjahre. 1957 schließlich zog Janisch nach Grafing und begann, als Lehrerin in der Volksschule Grafing zu arbeiten.

In Grafing lebt sie heute noch. Was sie selbst erlebt hat, prägt sie in dem, was sie heute tut und fühlt. Die Situation der Asylbewerber beispielsweise beschäftigt sie sehr. "Ich kann die Flüchtlinge gut verstehen", sagt Janisch. Sie wünscht niemandem, so etwas erleben zu müssen. Aber mehr als alles andere wünscht sie sich eins: "Dass es keinen Krieg mehr gibt."

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