Grafing:Migration ist menschlich

Grafing: Auf die ihm eigene tiefsinnige Weise macht sich Michael Skasa Gedanken über die Geschichte der Migration und die Sehnsucht nach Heimat.

Auf die ihm eigene tiefsinnige Weise macht sich Michael Skasa Gedanken über die Geschichte der Migration und die Sehnsucht nach Heimat.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Buchautor Michael Skasa unternimmt Streifzug durch die Geschichte der Völkerwanderung

Von Anna Weininger, Grafing

"Was ist ein Fremder?" hat mal ein Professor den Komiker Karl Valentin gefragt. "Fleisch, Gemüse, Mehlspeisen, Obst", antwortete dieser. "Nein! - Nein! - Nicht, was er isst, sondern was er tut." Ja, was tut er? Er reist. Und irgendwann kommt er an seinem Ziel an. Und dann ist er ein Fremder in der Fremde, bis er sich nicht mehr fremd fühlt. So sah das Karl Valentin. Eine banale und doch so intelligente, treffende Erklärung für eine Situation, in der sich gerade mehr als 50 Millionen von Geflüchteten weltweit befinden. Die geistreiche Unterhaltung des bayerischen Komikers ist aktuell, auch mehr als 70 Jahre nach ihrer Entstehung.

Wenn Michael Skasa, ehemaliger Theaterkritiker und Buchautor aus Grafing, die herrlich skurrile und weise Abhandlung von Karl Valentin liest, geht ein amüsiertes Geraune durch den Saal der Grafinger Stadtbibliothek. Skasa folgte der Einladung der Volkshochschule Grafing und führte in einem ansprechenden literarischen Streifzug das Publikum am vergangenen Freitag durch das Semesterthema "Heimat in Bewegung". Seine literarische Reise beginnt bei biblischen Fluchtgeschichten, streift Texte der Aufklärung und der Klassik und gelangt am Ende über Karl Valentin zur zeitgenössischen Migrationsliteratur. Feinfühlig wählt Skasa Texte aus mehr als 2000 Jahren Weltliteratur aus, in denen immer wieder die Themen Heimat, Vertreibung, Flucht und Fremde verarbeitet werden. Erzählungen, Briefe und Gedichte verwebt er durch pointierte Kommentare und spritzige Überleitungen spannend und zugleich unterhaltsam zu einem Lektüre-Kanon, den man jedem Deutschkurs der Oberstufe wärmstens empfehlen kann.

Heimat, Vertreibung, Flucht und Fremde: Das sind Themen, welche die Menschheit nicht loslassen. Immer wieder werden sie literarisch aufgerollt, verarbeitet und aus verschieden Perspektiven durchdekliniert: Die Geschichte der Israeliten beispielsweise, die in der Exoduserzählung der Bibel aus der ägyptisch-babylonischen Gefangenschaft flohen. Politische Flüchtlinge sozusagen, geführt von Moses. "Ich bezeichne ihn jetzt mal bewusst nicht als Schlepper", fügt Skasa seiner Lesung hinzu. Tausende Jahre später schreibt die jüdisch-russische Dichterin Mascha Kaléko (1907 bis 1975) nach dem 2. Weltkrieg ein Gedicht über Flucht und Fremde. "Haus ohne Dach; Kind ohne Bett / Tisch ohne Brot; Stern ohne Licht"; schmerzhafte Zeilen, die auch gerade in jüngster Zeit auf so viele Schicksale zutreffen.

"Menschen sind Getriebene", meint Skasa. Sagen wie der antike Aeneas-Mythos, das mittelalterliche Nibelungenlied oder das morgenländische Märchen "Sindbad der Seefahrer", all diese Geschichten erzählen von Völkerwanderung, Flucht und Vertreibung. Dass Migration letztendlich auch der mythologische Ursprung unseres Kontinents ist, führt Skasa mit der Sage um Europa (herausgegeben von Gustav Schwab) vor, in der Zeus in Form eines Stieres eine phönizische (heute syrische) Königstochter namens "Europa" auf den gleichnamigen Kontinent entführte. Dorthin, wo man gerade politisch debattiert, ob weiterhin syrische Flüchtlinge aufgenommen werden sollen oder nicht. Vor diesem Hintergrund klingt die Saga fast schon grotesk.

Das Absurde ist, dass unsere Literaturgeschichte, wie sie Skasa sieht, Beweis dafür ist, dass "wildes Hin- und Her-Migrieren" zum Menschsein dazugehört. Dennoch wiederholen sich Abgrenzung, Hass und Vorurteile gegenüber Fremden immer wieder. Und so ist es noch gar nicht lange her, dass Flüchtlinge aus Pommern und anderen Gegenden, die in Grafing nach dem 2. Weltkrieg Zuflucht fanden, aufs Übelste beschimpft und missachtet wurden. "Bis 1961 hat man Evangelen noch Steine nachgeworfen", erzählt Skasa, nachdem er eine Passage aus dem von ihm herausgegebenen Buch mit Geschichten aus Grafing ("Nix gehabt - und so viel erlebt") vorgelesen hatte. Skasa hatte seinen kulturgeschichtlich in die Tiefe gehenden Vortrag eigens für den Abend in der Grafinger Bibliothek zusammengestellt. Man kann nur hoffen, dass der nicht in der Schublade verschwindet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: