Süddeutsche Zeitung

Grafing:Lehrreicher Friedhofs-Bummel

Das neue Gelbe Heft beschäftigt sich mit den Gottesäckern in der Stadt und den Persönlichkeiten, die dort ruhen. Auch von überraschenden Entdeckungen berichten die Forscher

Von Victor Sattler, Grafing

Ausgerechnet an einem Freitag den 13. nimmt Johann Hupfer an seinem gemütlichen Wohnzimmertisch Platz, um ein letztes Mal vor Andruck über die handschriftlichen Notizen im Manuskript der Friedhofs-Lektüre zu gehen. Das Datum macht ihm nichts aus, denn er ist weder abergläubisch noch arbeitsscheu: Für die 19. Edition des Grafinger Gelben Hefts hat Heimatkundler und Herausgeber Hupfer zwei Jahre lang mit seinen drei Co-Autoren zahlreiche Fakten über Grafings vier Friedhöfe, die Persönlichkeiten unter den Grabsteinen und ihre Bedeutung für die Stadt gesammelt. Vieles, das vergessen war, haben sie wieder ausgegraben - natürlich nur im übertragenen Sinne.

Damit hat sich Hupfer einen kleinen Herzenswunsch erfüllt, nachdem die Kapellen Grafings mit der 18. Edition abgehakt waren. Er selbst ist, was man durchaus als einen Friedhofs-Bummler bezeichnen könnte, er hat schon den großen Wiener Komponisten an ihrer letzten Ruhestätte einen Besuch abgestattet, nimmt regelmäßig an Führungen teil und erachtet den Friedhof nicht bloß als aufgeschlagenes Geschichtsbuch, sondern auch als tagesaktuelle Visitenkarte eines Ortes. Mit dem Filialfriedhof St. Martin hat er sich einen persönlichen Fleck rausgesucht, um darüber zu schreiben, stammt Hupfer doch selbst aus der Gemarkung Elkofen, die erst 1978 nach Grafing eingemeindet wurde. In Elkofen liegen namhafte Adelsgeschlechter und namenloses Fußvolk wie Brüder beieinander, zumindest beinahe: Zum einen ist da der gräfliche Privatfriedhof der Familie Rechberg-Rothenlöwen, zum anderen die Kriegsgrabstätte, in der 95 Kriegsgefangene letzte Ruhe fanden, nachdem sie im Juli 1945, nur zwei Monate nach der Befreiung Deutschlands, wegen einer falschgestellten Weiche in einem Zug umkamen. Dass ihrer überhaupt gedacht wird, das sei der "sozial eingestellten" Familie Rechberg-Rothenlöwen zu verdanken, die auch ihre einstigen Bediensteten noch auf dem Friedhof mit Tafeln ehrt.

Franz Oswald hat derweil mit seinen Recherchen den Grafinger Waldfriedhof erschlossen, der 1947 gegründet wurde. 51 Persönlichkeiten, die auf ein oder andere Weise prägend waren für Grafing, liegen hier: Darunter der CSU-Landrat Hermann Beham, der Schriftsteller und Journalist Eugen Skasa-Weiß und der engagierte Chorregent Hans Eham, aber auch Menschen mit eigentümlicheren Lebensläufen wie etwa Fritz Preiss, der als Wünschelrutengänger berüchtigt war und "magische Dinge in Grafing entdeckt" haben soll, oder der friedhofseigene Gärtner Hans Büchner, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus zum Helden aufschwang und dafür an seinem offenen Grab noch als Lebensretter gepriesen wurde. Sie alle könnten jetzt mit Nummern auf einer Schautafel am Eingang vermerkt werden, "wie bei anderen berühmten Friedhöfen", schlägt Johann Hupfer der Stadt vor und lacht.

Mit dem neuen Bewusstsein für diejenigen, die in Grafing bestattet sind, war die Leistung des Autorenteams aber nicht getan: Ulrich Kasperek stieß im Pfarrstadl des Pfarrfriedhofs St. Johannes der Täufer auf die vergessenen Überreste entsorgter Grabsteine. Wer die Brocken zusammensetzt, komplettiert so die Namen von ehemaligen Grafinger Priestern, deren steinerne Male 1962 im Rahmen eines Umbaus aus der Erde gerissen wurden. "So etwas ist nicht respektvoll", sind sich Hupfer und Kasperek einig. Dank dem Gelben Heft gebe es nun gute Hoffnung, dass neue Standorte für die alten Steine den Herren Priestern wieder einen kleinen Platz im Gedächtnis Grafings einräumen könnten.

Zu guter Letzt zeichnet sich in der Lektüre auch ein Wandel in der Bestattungskultur ab: Mit Tabellen und Statistiken wird belegt, dass sich Urnengräber in Grafing zunehmender Beliebtheit erfreuen, manche wünschen sich gar ein anonymes Grab ohne Inschrift.

Der Bezug zum Familiengrab nimmt mit der modernen Mobilität und Ortsungebundenheit ab - die kostenintensive Grabpflege wird von manch Hinterbliebenem heute hinterfragt. Was in der Gotik noch "die Kunst, gut zu sterben" war, hat im 21. Jahrhundert seine Bedeutung weitgehend verloren. Aber Lebensbejahung müsste nicht zwingend Todes-Verneinung bedeuten: "Man muss den Tod nicht so tabuisieren, wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war", findet Johann Hupfer. "Er gehört zum Leben dazu." Mit dieser Einstellung will das 19. Gelbe Heft keine Schauergeschichte sein, sondern lieber den vielen Zugezogenen in Grafing eine Chance geben, sich in die Ortsgeschichte einzulesen, rät Hupfer, um "sich in der Wahlheimat heimisch zu machen". Wer sich auf den Friedhöfen umschaut, erkennt immerhin: Man ist hier in guter Gesellschaft.

Das 19. Gelbe Heft "Unsere vier Friedhöfe im Grafinger Stadtgebiet" wird am Donnerstag, 26. Oktober, um 20 Uhr in der Stadtbücherei Grafing präsentiert. Für sieben Euro ist das Büchlein gleich im Anschluss sowie ab dem Folgetag in allen Grafinger Büchereien und dem Stadtmuseum erhältlich.

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SZ vom 25.10.2017
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