Lehrerin aus Afghanistan:"Ich wurde vor seinen Augen mit Peitschen geschlagen"

Lehrerin aus Afghanistan: Früher war Sidiqa Dawari Schuldirektorin. Die Taliban zwangen sie, ihre Position aufzugeben.

Früher war Sidiqa Dawari Schuldirektorin. Die Taliban zwangen sie, ihre Position aufzugeben.

(Foto: Christian Endt/Christian Endt)

Sidiqa Dawari hat bis 2020 in Afghanistan gelebt. Vor einem Jahr töteten die Taliban ihren Sohn, kurz darauf verließ die 67-Jährige ihr Heimatland. Über eine Frau, die Mädchen heimlich bei sich zu Hause unterrichtete.

Von Korbinian Eisenberger, Grafing

Sie weiß, wie es ist, wenn die vermummten Männer mit den Gewehren kommen. Sidiqa Dawari hat es bereits erlebt. Ende der 1990er, als die Taliban in Afghanistan zum ersten Mal die Macht ergriffen. Damals wie heute ordnete das Regime an, Schulen und Hochschulen für Frauen zu schließen. Bildung als alleiniges Privileg für Männer. Sidiqa Dawari war damals Ende 30 und traf eine Entscheidung: Mit mir nicht. Fortan unterrichtete sie Mädchen heimlich bei sich zu Hause im Keller. Jahrelang ging das gut. Bis die Vermummten mit den Gewehren kamen.

Ein Spätherbsttag in Grafing. Alle Augen sind auf die Frau gerichtet, die in einen weißen Schal gehüllt vorne sitzt. Am Vorabend kam Sidiqa Dawari mit einem Flugzeug aus Istanbul in München an. Nun berichtet sie auf Einladung des "Deutsch-Afghanischen Vereins für den Wiederaufbau Afghanistans". Anhand der Erzählungen einer Frau, die unlängst einem Déjà-Vu entkommen ist - vom 2001 zerschlagenen ersten Regime der Taliban - lässt sich erahnen, was die Menschen in Afghanistan seit August 2021 durchmachen.

Am wichtigsten war den Schülerinnen Mathematik

Damals, Ende der 1990er, lebte Sidiqa Dawari mit ihrer Familie in einem Hochhaus in Kabul. Jede Woche kamen 25 Mädchen aus der Umgebung und bekamen von der studierten Lehrerin Unterricht. "Am wichtigsten war den Schülerinnen Mathematik", sagt sie. Dawari war damals Teil einer Widerstandsbewegung im Untergrund. Oder besser: In den Kellern des Landes. "Es gibt in Afghanistan Frauen, die ihr Wort erheben", sagt sie. "Es sind aber nicht viele, weil die meisten Angst haben." Angst davor, erwischt und bestraft zu werden. So wie damals Dawari.

Die Schwachstelle des heimlichen Unterrichts im Hochhauskeller war die Ankunft der Schülerinnen. Irgendwann kam der Tag, an dem jemandem auffiel, dass hier regelmäßig zwei Dutzend Mädchen ein- und ausgehen. Dieser jemand, so Dawari, dürfte selbst Teil des Regimes gewesen sein. "Die Taliban haben gesehen, wohin die Mädchen gehen", sagt sie. Untereinander hätten sich die Leute nicht verraten. Und so kam es, dass sich in Dawaris Keller Szenen wie bei einer Razzia abspielten. Die Soldaten verhafteten sie und ihren Sohn. "Ich wurde vor seinen Augen mit Peitschen geschlagen", sagt sie. Sie musste unterschreiben, "dass ich in Zukunft keine Frauen mehr unterrichte", sagt sie. Daran hielt sie sich aber nur kurz.

Ein Grafinger Verein hat viele Jahre geholfen

Im Pfarrheim projiziert Dawari ein Foto an die Wand: Im Hintergrund eine Schule, vorne die damals noch 20 Jahre jüngere Dawari neben lachenden Mädchen. Diese Aufnahme war möglich, weil die Taliban kurz zuvor entmachtet worden waren. Im Oktober 2001 wurden sie von Truppen der afghanischen Vereinten Front in Zusammenarbeit mit britischen und amerikanischen Spezialeinheiten gestürzt. Für Sidiqa Dawari und Millionen von Afghaninnen begann nun eine Zeit, in der sie sich ihre Rechte zurückeroberten. Dawari baute eine der größten Mädchenschulen des Landes auf: die Tahye Maskan Mädchenschule in Kabul, wie auf dem Bild zu sehen.

Geholfen hat dabei seit 2001 der Afghanische Verein in Grafing, dessen wichtigstes Mitglied an diesem Vormittag den Vortrag Dawaris aus dem Afghanischen ins Deutsche übersetzt: Sabur Afsali war mit der Bundeswehr bis 2008 in Afghanistan im Einsatz. Mittlerweile lebt er in Grafing und steuert von Oberbayern aus Hilfsprojekte in Afghanistan.

In ihrem Vortrag bedankt sich Dawari mehrmals für die zwei Jahrzehnte lange Unterstützung des Vereins mit Geld, Schulmaterialien, Möbel oder Sportklamotten, Lebensmittel und Kinderbekleidung. So war möglich, eine "hochmoderne Schule" aufzubauen. "Wir hatten zuletzt 7000 Schülerinnen, die wir in drei Schichten unterrichteten", erzählt die langjährige Rektorin der Tahye Maskan Mädchenschule. Jedes Jahr wurden 480 Schülerinnen aufgenommen und 270 Abiturientinnen verabschiedet. Ihr Fazit: "Die Frauen haben von 2001 bis 2020 enorme Schritte gemacht."

Dawari weiß nicht, ob sie jemals zurück kann

Für Beobachter in Deutschland kam die abermalige Übernahme überraschend. Die Familie Dawari hatte sich darauf eingestellt. Kurz versagt der Frau vor dem Beamer die Stimme. Sie geht nicht ins Detail, nur so viel: Einer ihrer Söhne sitzt direkt hinter ihr. "Mein anderer Sohn ist vor einem Jahr von den Taliban ermordet worden." Warum es dazu kam? Dawari bleibt hier vage. Klar ist, dass die ganze Familie stets Gegner der Taliban war und ist. "Wir alle waren bedroht", sagt sie, auch die Töchter und sie selbst. In der Nachbarschaft hätten die Taliban "nachts Frauen aus ihren Häusern geholt und erschossen", sagt sie. Also reiste sie und ihre Familie aus, ehe es zu spät war. Seit einem knappen Jahr leben sie in der Türkei.

Nicht jedes Detail der Familiengeschichte lässt sich überprüfen. Es handelt sich um Sidiqa Dawars Erinnerungen. Ähnliche Berichte sind bisweilen auch von anderen Frauen aus dem Land zu vernehmen.

Wie geht es weiter in Afghanistan? Vor allem für die Frauen? Dawari weiß nicht, ob sie das Land je wieder besuchen kann. Derzeit sei eine Rückreise undenkbar. Vieles aber erfährt sie auch so. Es ist kein Geheimnis, dass die Taliban das Unterrichten von Frauen wieder verboten haben. Die Fortschritte der afghanischen Frauen in den vergangen zwei Jahrzehnten, sagt Dawari, "die werden nun mit Füßen getreten". Zuletzt durften Frauen in Afghanistan selbst bestimmen, wie sie sich kleiden, so Dawari. Es habe Redefreiheit und Pressefreiheit gegeben. "Diese Rechte wurden von den Taliban genommen."

Ob sich in den Kellern von Kabul schon Widerstand regt? Bekommen Mädchen und Frauen gegen die Regeln der Taliban heimlich Unterricht? Dies kann oder mag Dawari nicht beantworten. Nur so viel: "Das schlimmste ist, wenn die Welt Afghanistan vergisst und dort niemanden mehr unterstützt." Darunter leide vor allem die Bevölkerung. "Und am allermeisten die Frauen."

Wer mehr über Verein für den Wiederaufbau Afghanistans (DAW) erfahren oder auch die Arbeit unterstützen möchte, kann sich an die E-Mail-Adresse info@dawev.de wenden.

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