Süddeutsche Zeitung

Grafinger Stadthalle online:Ametsbichler packt aus

Livestream aus der Turmstube: Grafinger Jazzer teilt rare Schelllack- und Wissensschätze mit einem höchst aufmerksamen Online-Publikum.

Von Ulrich Pfaffenberger

Eine Schelllackplatte von 1917. Aufgenommen von der Original Dixieland Jass Band. Die erste kommerzielle Jazz-Platte der Geschichte. Vielleicht ist es ganz gut, dass Josef Ametsbichler fast allein in der Grafinger Turmstube ist, als er die schwarz schillernde Scheibe mit dem legendären "Victor"-Label (der Hund mit dem Grammophon) aus ihrer papierenen Hülle zieht. Denn vermutlich würde der eine oder andere Jazzer außer Kontrolle geraten in unmittelbarer Nähe dieser Kostbarkeit. So aber sitzen die Zuschauer zuhause an den Monitoren und sind das, was der Programmtitel vorgibt: "Jazzhörer". Damit war Ametsbichler schon einmal in der Turmstube aufgetreten, hatte Schätze aus seiner in drei Jahrzehnten aufgebauten Sammlung präsentiert. Nun die damals schon eingeforderte Neuauflage, dem Distanzgebot folgend im Live-Stream. Ein weiterer Baustein im umständehalber gewandelten Veranstaltungskonzept der Stadthalle, mit dem Sebastian Schlagenhaufer realiter schon jetzt mehr für den Erhalt der Spielstätte getan hat, als es ihre angejahrte Papierform hätte erwarten lassen.

Von "Satchmo" legt Ametsbichler "Westend Blues" und "Mac the knife" auf. Coleman Hawkins, den Vater des Tenorsaxofons, würdigt er mit "Talk of the Town" und "Body and Soul", das als Meilenstein der Improvisation bis heute Wegmarke für Jazzer ist, die etwas können wollen. "String of Pearls" von Glenn Miller darf nicht fehlen, Count Basies "One o' clock jump" auch nicht und mit Benny Goodmans "The man I love" ist die Verbindung geschaffen zur tragischen Billie Holiday und "Strange Fruit". Jede Nummer ein Glanzstück für sich, aber mehr noch ein Beweis für den Leitsatz: Jazz ist nicht, was man hat, sondern was man daraus macht.

Die 120 Minuten prägt aber noch ganz etwas anderes: Josef Ametsbichler ist Jazzer mit Leib und Seele. Kenner der regionalen Szene und Freunde von EBE-Jazz mögen das für eine Binsenweisheit halten. Aber ohne das, was in dieser Seele wohnt, hätten die gut zwei Dutzend Zuhörer nur ein paar spannende Stücke gehört, begleitet von kenntnisreichen Worten. So aber werden sie Zeugen, wie einer liebevoll die kostbaren Platten in die Hand nimmt und auflegt, wie er selbst nach innen gekehrt lauscht, wie er manchmal nach Worten sucht, die seinem Empfinden gerecht werden - und sie nicht findet, weil seine Sprache die Musik ist. Erst aus diesem Bruch mit der Perfektion entsteht ein Erlebnis, erst aus seiner Person fließt in die einzelnen Aufnahmen jenes Flair hinein, das aus der Online-Anwesenheit ein Miteinander macht.

Die eine, erstaunliche, Wahrnehmung des Abends ist die technische Qualität - in mehrerlei Hinsicht. Legt man die Umstände zugrunde, unter den vor 90 oder 100 Jahren Schallplatten aufgenommen wurden, ist das Ergebnis verblüffend hochwertig. Durch das Rauschen der Rillen hindurch geben sich fein destillierte Höhen und Tiefen zu erkennen. Die 78 Umdrehungen pro Minute lassen mehr Charakter erkennen als noch so feine Laser bei einer CD, ganz zu schweigen vom MP3-Format. Man braucht keinen Glaubenskrieg über "besser" und "schlechter" vom Zaun zu brechen, aber es bleibt festzustellen: Die Aufnahmen mit der Technik von anno Tobak sind genau deswegen einzigartig, weil es heute keine zwei identischen von ihnen mehr gibt. Näher an "live" geht nicht. Weil Ametsbichler nicht irgendwas in seiner Sammlung aufbewahrt, sondern Einspielungen, die zu den besten ihrer Zeit gehören, kommen die Zuhörer in den Genuss maximaler Authentizität. Da hat kein Toningenieur ausgesteuert, da hat keine Software geschönt: Wir lauschen der Kunst, als wären wir live dabei. Wobei auch der Technik von heute Respekt gezollt sei. Die sitzt in der Turmstube und überträgt diese Originalklänge in bester Qualität übers Internet. Eindeutig: Könner am Werk.

Die andere, kaum überraschende, Wahrnehmung bescheren die kenntnisreichen Gäste: Was sich während der zwei Stunden in der Chat-Spalte abspielt, ist Jazzologie auf höchstem Niveau. Was im Konzert allenfalls mit Gesten, Mimik, betonter Körpersprache und Szenenapplaus ausgedrückt werden kann, findet hier in Zwei- und Dreizeilern seinen Niederschlag. Da werden Soli kommentiert und Übergänge bejubelt, da werden lässig biografische Details der Künstler eingeworfen, da wird, unaufgeregt, aber herzlich, dem Moderator gratuliert, der an diesem Tag seinen 65. feiert. So intensiv und familiär spielt sich das Ganze ab, dass man irgendwann die physische Distanz gar nicht mehr wahrnimmt. Solche Zutaten sind es, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Musik wachrufen, das es offenbar nicht nur in der Live-Präsenz gibt, sondern eben auch in einem anderen Aggregatszustand des Erlebens. Selbst wenn kein Applaus zu hören war: Gespürt haben ihn alle.

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Quelle:
SZ vom 14.12.2020
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