Grafing:Session für Herz, Ohr und Gedanken

Grafing: Über Jazz lässt sich immer reden, wenn Jazzmusiker zusammen kommen, vor allem im Turm der Stadthalle. So hatte Stadthallenleiter Sebastian Schlagenhaufer (rechts auf der Bühne) zum Gespräch gebeten, Publikum gab's online dazu.

Über Jazz lässt sich immer reden, wenn Jazzmusiker zusammen kommen, vor allem im Turm der Stadthalle. So hatte Stadthallenleiter Sebastian Schlagenhaufer (rechts auf der Bühne) zum Gespräch gebeten, Publikum gab's online dazu.

(Foto: Christian Endt)

Mit Infotainment in Wohnzimmeratmosphäre liefert "Jazz Grafing" im Live-Stream einen gelungenen Beitrag zum International Jazzday 2020

Von Ulrich Pfaffenberger, Grafing

oder sonstwo. Ortsmarken, wie die Angaben am Anfang eines redaktionellen Textes genannt werden, sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Denn wo soll man denn ein Ereignis "verorten", das zum wesentlichen Teil nicht dort stattfindet, wo es über die Bühne geht? Gerade bei Konzerten sind die Sinne und das Gehirn der Zuhörer die zweite, unverzichtbare Spielstätte. Dort erzeugen Stimmen und Klänge der Interpreten ihren Widerhall, lösen Gefühle aus, entfalten Wirkung. Diese Zuhörer befinden sich derzeit verstreut in aller Welt, allenthalben, aber nicht dort, wo die Musik spielt.

Am Donnerstagabend nun haben sich Mitglieder von Jazz Grafing in der Turmstube der Stadthalle eingefunden, um via Live-Stream ihren Beitrag zum "International Jazzday" zu liefern. Sie haben damit kreativ dem Gedanken entsprochen, der diesem Tag seit jeher innewohnt: Eine virtuelle Gemeinschaft von Jazz-Freunden rund um die Welt herzustellen, die über Musik und in Gedanken verbunden sind, auch wenn sie sich gerade nicht in Grafing, New York, Buenos Aires oder Ulan Bator befinden. Eine Idee, die sich gerade jetzt als tragfähig erweist, da normale Konzerte nicht stattfinden können.

"Kreativ" darf man das Angebot der Grafinger schon deshalb nennen, weil sie darauf verzichtet haben, im kleinen Kreis eine Session abzuhalten, ein paar Mikrofone und eine Kamera aufzustellen und die Außensitzenden per Online-Übertragung zu beglücken. Vielmehr haben sie, wie bei einem Gespräch unter Freunden, Erinnerungen hervorgekramt, Anekdoten berichtet, einige Videos eingespielt und so jene vertrauliche Atmosphäre geschaffen, wie man sie von den regulären donnerstäglichen Begegnungen in der Stadthalle kennt oder von EBE-Jazz.

Die Geschichte des Festivals, das sich im Verlauf von nur wenigen Jahren als tragendes Element des Musiklebens der Region und als hell leuchtendes Aushängeschild manifestiert hat: Sie war der rote Faden durch die knapp zwei Stunden Programm, zu denen sich zeitweise mehr als 50 Besucher zuschalteten. Die es erkennbar genossen, via Chat-Funktion mit eigenen Kommentaren den Dialog zu beleben, den Frank Haschler, Joachim Jann und Bernhard Ladstetter führten und den Sebastian Schlagenhaufer moderierte und technisch betreute. Aus Hamburg war zeitweise Martin Zenker zugeschaltet, dessen internationales Renommee ein erkleckliches Maß zur Wahrnehmung der regionalen Jazzszene in der Welt beigetragen und viele prominente Gäste hierher geführt hat. Man meint es selbst übers emotionslose WLAN mitzubekommen, wie ein Raunen durchs Auditorium geht, wenn die Namen Ron Carter, Roberta Gamberini oder Rick Hollander fallen.

Immerhin 400 Musiker aus 25 Ländern waren schon zu Gast und haben ihren Sound-Abdruck im musikalischen Gedächtnis der Region hinterlassen. Immer wieder, inspiriert durch Videoschnipsel und persönlich gefärbte Anekdoten, kamen auch andere Namen ins Spiel, wie Claus Raible, Till Martin oder Josef Ametsbichler, dank deren Beiträgen ein Festival wie EBE-Jazz aus der Taufe gehoben werden konnte, von dem der Schlagzeuger Thomas Elwenspoek sagt, es sei "die beste Session in 500 Kilometern Umkreis". Man spürt es bei jedem Namen der fällt, bei jedem Auftritt, an den erinnert wird, durch Lautsprecher und Bildschirm hindurch: Das ist kein bloßes name dropping, da schwingt ehrliche Begeisterung mit - versehen mit einer kräftigen Prise Staunens darüber, wie das alles gelingen konnte.

In den Gesprächsbeiträgen drängen aber nicht nur solche Spitzenereignisse an die Oberfläche, sondern auch all jene Begleit- und Nebenwirkungen, die eine sprudelnde Quelle zu Tage fördert: die Wechselwirkung mit der Musikschule bis hin zu den "Jazzhipsters", die Verbindung der unterschiedlichen Spielstätten im Landkreis vom Café bis zur Kirche und, heute wichtiger denn je, das Gemeinschaftserlebnis von Musikfreunden, bei dem es nicht auf Spitzenleistung ankommt, sondern auf den Spaß an der Freud.

Dass am Donnerstag gelegentlich die Technik ihre Macken hatte, zum Beispiel beim Aussteuern der Mikrofone oder beim reibungslosen Schnitt von Live zur Konserve und zurück - geschenkt. Erstens gelang es den Jazzern - wem sonst! - mit souveränen Improvisationen darüber hinwegzuspielen. Zweitens verliehen gerade diese kleinen Unzulänglichkeiten der Veranstaltung den Charme, mit dem sich alle technische Distanz überwinden lässt. Drittens war's wurscht.

Waren doch die Erinnerungen an die brodelnden Energien im Keller vom Kastenwirt, an den mitreißenden Auftritt einer 22-köpfigen Bigband junger chinesische Musiker, an die prägnanten Momente von JazzKorea viel zu mächtig, als dass sich einer daran hätte stoßen können und wollen, dass hier keine Show in TV-Qualität produziert war, sondern eine Übertragung aus dem Wohnzimmer. Ein solches Format geht nicht immer gut, derlei wird sich nicht auf Dauer durchhalten lassen. Aber für diesen Abend und im Kontext des IJD stimmte die Session auf den Punkt genau. Die Vorfreude auf EBE-JAZZ 21 dürfte damit nur noch zunehmen, das Frank Haschler für den Zeitraum zwischen 8. und 17. Oktober 2021 zu guter Letzt ankündigte.

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