Süddeutsche Zeitung

Spurensuche in Glonn:Der laute Wind in mir

Wenig ist bekannt über den Dichter Bernhard Koller aus Glonn: Er schied in jungen Jahren freiwillig aus dem Leben und hinterließ ein rätselhaftes, fiebrig niedergeschriebenes Werk

Von Franziska Langhammer

Eiskalt erwischen sie einen, können erschüttern bis ins Mark. Worte, die nach Halt suchen, Gedankengänge, die fiebrig nach allen Seiten tasten und dabei vor allem eines nicht schaffen: zu verweilen. Die Gedichte des Bernhard Koller sind so intensiv, so intim, dass immer wieder Menschen auf sie aufmerksam werden und dem kurzen Leben des Glonner Autors nachspüren, der solche Zeilen hervorgebracht hat.

Auch die Recherche zu diesem Text beginnt mit nicht viel mehr als einem Namen und dem Wissen, dass der Autor im Alter von nur 20 Jahren starb. Die Historiker Bernhard Schäfer aus Grafing und Ortchronist Hans Obermair aus Glonn helfen mit Informationen weiter, die Suche führt in die Kreisdokumentation des Landratsamts Ebersberg und schließlich nach München in die Monacensia im Hildebrandhaus, die in ihrem Literaturarchiv der Stadt München seit 2007 auch den gesamten Nachlass Bernhard Kollers verwaltet und aufbewahrt. Dort, auf säurefreiem Papier, scheint zwischen den Seiten die Zeit stehen geblieben zu sein, und das Leben eines jungen, hoffnungsvollen Mannes erzählt sich wie von selbst in Briefen, Gedichten, Tagebüchern; Dokumente, die allesamt mehr als 65 Jahre alt sind.

Bernhard Koller kommt am 19. Dezember 1934 in Rosenheim zur Welt. Er ist der Sohn von Barbara und Wolfgang Koller, der sich als regional bekannter Schulmeister und Heimatdichter in die Glonner Historie einschreiben wird. Bernhard hat eine ältere Schwester, Elisabeth. Auf den Fotos, welche die Mutter liebevoll in ein Familienalbum einklebt und beschriftet, sieht man zwei fröhliche, hübsche Kinder. Bernhard ist hochgewachsen, ein schmalschultriger Junge, oft in Lederhosen gekleidet und meist mit Lausbubengrinsen erwischt. Doch schon früh weicht auf den Bildern das Kindliche in seinem Gesicht einem stolzen Ernst.

Auch in der Schule fällt dieser Wesenszug auf, und vor allem auch seine sprachliche Begabung. In Glonn besucht er die Grundschule, und schon in seinem Zeugnis in der zweiten Klasse heißt es: "B. könnte in Deutsch und Rechnen Hervorragendes leisten." Warum er das nicht tut, ist nicht weiter ausgeführt. Im Oktober 1948 attestiert ein Arzt Bernhard Koller einen Herzfehler, der ihn fortan vom Schulturnen befreit, und um welchen er sich nicht weiter zu scheren scheint.

Der Sommer 1952, da ist Bernhard noch keine 18 Jahre alt, verheißt große Freiheit. Mit einem Freund macht er sich auf Deutschlandreise bis in den hohen Norden, per Auto, trampend, mit dem Schiff. Immer wieder erreichen die Eltern in Glonn Briefe und Postkarten aus der Ferne; Bernhard schreibt begeistert von den Menschen, die sie unterwegs kennen lernen, von den Kirchen und Altären, die er besichtigt. Auf den 18. August dieses Jahres ist eine Karte datiert, die allein an den Vater gerichtet ist: Bernhard gratuliert ihm zu seiner Beförderung zum Bezirksschulrat. Der Ton dieser Karte ist ein respektvoller, doch wenig herzlich.

Vielleicht beschwingt vom Duft dieser sorglosen Wochen, verliebt sich Bernhard wenig später. Auf dem Weg zur höheren Schule nach München, am Bahnsteig, beobachtet er wochen-, wenn nicht monatelang eine junge Frau, bis er endlich den Mut aufbringt und sie anspricht. "Mein Leben war ein einziger Traum zu Ihnen hin", wird er ihr später in einem Brief gestehen. Die Ernüchterung kommt mit dem ersten Ansprechen: "Da war alles anders", schreibt Bernhard Koller, "Sie waren nicht der Mensch, den meine nächtlich-wachen Wunschträume erträumt hatten, aber Sie waren da, voll ganz ..."

In den nächsten Monaten schreibt er regelmäßig mit der jungen Frau, Ingeborg, deren Antworten wir nicht kennen. Sie scheint Bernhard Koller abgewiesen zu haben, doch das schreckt ihn nicht, nein, vielmehr sieht er sich bestätigt in einer Art Seelenverwandtschaft. Auf mehreren eng beschriebenen Briefseiten legt hier einer sein ganzes Innenleben bloß. "Sie lesen das Bekenntnis eines Menschen, der der Zwiesprache mit seinem Gott nicht fähig ist, so brennend mich danach dürstet", schreibt Bernhard Koller da - und fasst ein schon damals existentes, namenloses Grauen in sich in Worte: "Ich habe Angst vor dem lauten Wind in mir, aber ich fliehe ihn nicht, ich warte..."

Es muss schon länger etwas Dunkles in ihm lodern, das er auch über Ingeborg zu stülpen versucht, dem einzigen Menschen, dem er sich anvertraut. "Sie werden immer an der Entfremdung von der eigentlichen Wirklichkeit leiden, die man uns aufzwängt, wenn wir die sinnlosen Unwesentlichkeiten erfüllen müssen", attestiert er ihr und gibt dabei tiefe Einblicke in sein Hadern mit der prosaischen Alltagswelt: "Wenn einer ... einmal wirklich in die Erkenntnis einbrechen sollte und somit notwendig traurig oder wahnsinnig wird, so schicken ihm die anderen einen Psychotherapeuten oder etwas."

Die Adressatin seiner Briefe, heute Ingeborg H., ist wahrscheinlich eine der wenigen noch lebenden Menschen, die Bernhard Koller persönlich kannten. H. wohnt heute in der Nähe der Berge, sie ist in ihren Achtzigern und scheint keineswegs überrascht über den Anruf. "Auf dem Schulweg, auf der Bahnfahrt über Grafing und Glonn nach München, bin ich Bernhard Koller öfter begegnet. Er sprach mich einmal an, mit ,Sie', was mich wunderte", erzählt H. "Er behielt es immer bei."

Natürlich habe man über die Schule gesprochen. "Ich merkte gleich, dass er ein sehr guter Schüler sein musste, der sich vorwiegend mit Literatur, Philosophie, Psychologie beschäftigte", so H. Mit der Zeit ahnte sie, dass er selbst schrieb. "Ich dachte, dass er einmal ein großer Schriftsteller werden würde." Richtig lachen können habe er einmal in einer gemeinsam besuchten Picasso-Ausstellung, vor einem Bild, auf dem ein Fetzen hing. H. erinnert sich, dass sie sich nach der Schule nur noch selten sahen, jeder einen anderen Weg gegangen sei. H. suchte ihr Heil, wie sie sagt, im Gebirge.

Im Juni 1954 besteht Bernhard Koller das Abitur. Auch in der Schule ist seine Besonderheit, der künstlerischer Anspruch an sich selbst, nicht unbemerkt geblieben. So heißt es im Abiturzeugnis über ihn: "Seine Neigung und ein sehr ernstes, eindringendes, weit über die Anforderung der Schule hinausgehendes Streben war auf das Verstehen von Werken der Kunst gerichtet." Weiterhin heißt es, Bernhard zeige außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. "In seinen deutschen Aufsätzen stellte er teilweise die Ziele so hoch, daß sie im vorgeschriebenen Rahmen nicht restlos erreicht werden konnten."

Wenig später bezieht Bernhard Koller ein Zimmer in München und besucht, wie aus seinem Studienbuch hervorgeht, Vorlesungen wie "Die Frage der Überwindung des Existenzialismus" oder "Hölderlins Dichtungen". Zu dieser Zeit nehmen seine eigenen Gedichte, die er "zusammenhänge" nennt und die uns von Juli 1954 an erhalten sind, mehr und mehr Gestalt an.

Seine ersten, ungelenken Schritte in der Stadt, das Staunen über die Vielfalt, die Anonymität, das Einzigartige in der gesichtslosen Masse, werden zur Quelle, aus der er wie ein Besessener schöpft. "die nacht ging verloren: die häßlichkeit der vielen gesichter ist rührend", schreibt er im September. Folgt man Kollers Tagebuchaufzeichnungen und Gedichten dieser Zeit, sieht man einen fieberhaft Suchenden durch die Straßen Münchens wandern, unstet, aufmerksam; da saugt ein junger Mann alles an Leben, an Bemerkenswertem ein, was ihm geboten wird. Pointierte, eindrückliche sprachliche Bilder zeugen von einer verfeierten und zugleich zerrissenen Lebensphase. "ich habe mein ganzes gesicht in die heiße musik der welt gehängt", heißt es in einem Gedicht vom November 1954. Oft drehen seine Zeilen sich um Mädchen, Umarmungen, enttäuschte Nächte, aber auch wortlose Einsamkeit.

Den Entschluss, sein Leben selbst zu beenden, fasst Bernhard schon früh. Das Warum wird sich nie ganz klären, doch scheint ihm der Tod, nach Vollendung seiner Gedichte, unausweichlich. "die welt wird mir vorenthalten", schreibt er im März 1954, "ich bräuchte sie doch ganz. ich tue alles mit losen händen." Nüchtern beschreibt er in seinen Notizen, wie er sich beim Apotheker nach einem passenden Schlafmittel erkundigt. Bernhard nimmt eine Überdosis, allein in einem Hotelzimmer, und stirbt zehn Tage später, am 13. Juni 1955, in einem Krankenhaus an den Folgen.

"Als ich von seinem selbstherbeigefügten Tod erfuhr, war ich zutiefst erschüttert", sagt H. über den Freitod ihres Bekannten. "Wie konnte dieser hochbegabte, seltsame junge Mensch seinen Weg nicht finden? Die Eltern wussten es auch nicht, es blieb ein Rätsel." Mit Bernhard Kollers Eltern ist H. lange in Verbindung geblieben; vor allem mit der Mutter, mit der sie auch an Bernhards Grab war.

Was wäre aus dem Dichter Bernhard Koller geworden? Jahrelang setzen sich seine Eltern, denen der Tod des Sohnes immer ein großes Rätsel bleibt, für die Veröffentlichung seiner Gedichte ein. Diese hatte er zusammen mit seinen Tagebüchern kurz vor seinem Tod einem ehemaligen Lehrer per Post zugeschickt; niemand hatte von deren Existenz, von Kollers innerem Ringen, gewusst.

1960 schließlich werden die "zusammenhänge" mit ausgewählten Tagebuchnotizen in der Stifterbibliothek veröffentlicht. Sie bleiben nicht unentdeckt. Der Autor Carl Améry produziert 1965 einen halbstündigen Film mit dem Titel "Efeu für den Jüngling"; er will in Bernhard Kollers Leben und Sterben ein Narrativ erkennen, das es seit dem Altertum gibt: Ein junger Mann kommt in die Stadt - und zerbricht letztlich an ihr. Zuletzt werden Kollers Gedichte 2008 von dem Schriftsteller Norbert Lange in einem Antiquariat in Berlin aufgestöbert. Die Texte, die er mehr als Notate, Fragmente wahrnimmt, wie er sagt, faszinieren Lange so sehr, dass er sich für eine Neuauflage des schmalen Bändchens einsetzt. "schwäche, unkennbar für je, geht alles in ein licht auf", schreibt Koller kurz vor seinem Tod. Das Licht, es überdauert. Ingeborg H. beschreibt es so: "Seine Gedichte bleiben, auch sie rätselhaft."

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SZ vom 26.09.2020
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