Georg Büchners Woyzeck:Hochdynamischer Klassiker

Woyzeck von Michael Lieb im GG

Vielen Dank für das Engagement: Schauspieler Michael Jacques Lieb und einer seiner Gehilfen aus dem Publikum im Grafinger Gymnasium.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Michael Jacques Lieb inszeniert vor Grafinger Gymnasiasten ein komödiantisch-dramatisches Solo

Von Anja Blum, Grafing

"Auf geht's Woyzeck, mach' er 50 Liegestütze! Jetzt, sofort!" Tapfer schlägt sich der junge Mann, die Kollegen aus der Oberstufe zählen, eins, zwei, drei ... "Kommandeur" Michael Jacques Lieb hingegen hat schnell ein Einsehen, mit lauter Stimme wirft er die 28 in den Raum, dann die 36, doch das junge Publikum zählt gnadenlos korrekt weiter. Am Ende aber setzt Lieb sich durch, der Proband wird vorzeitig erlöst und erhält einen großen, gut gelaunten Applaus. Georg Büchners Drama "Woyzeck" steht an diesem Vormittag auf dem Stundenplan der Q 11 am Grafinger Gymnasium, ein Stück, das fast zweihundert Jahre alt ist. Dass es trotzdem heute noch brisant und lebendig, weil von zeitloser Tragik und literarischer Schönheit ist - so lautet die Lektion, die Lieb seinem Publikum erteilen möchte.

Ganz alleine tritt der Grafinger Schauspieler dazu an, er bespielt die große, frisch renovierte Aula namens "Badewanne" mit seiner Spezialität, dem "Woyzeck" als einem etwas kondensierten, aber nicht weniger ergreifenden Ein-Mann-Theater. In vielen Szenen muss Lieb dabei freilich mehrere Figuren darstellen, meist sind es zwei. Das gelingt ihm jedoch gekonnt. Zum Beispiel, indem er die eine nur mimisch verkörpert, die andere akustisch: Woyzek trommelt, marschiert, rennt, der Kommandeur schreit seine Befehle. Oder er fokussiert sich auf die eine, wichtige Figur, die Reaktion der jeweils anderen bleibt eine Ahnung. Und manchmal, da switcht er auch im Dialog zwischen den Rollen hin und her, und zwar so gut, dass man keine Mühe hat, dem Geschehen zu folgen.

Wobei: Etwas Ahnung vom Inhalt des ohnehin nur fragmentarisch überlieferten Stücks sollten Zuschauer fürs Verständnis wohl schon mitbringen - zu fremd ist diese Welt, zu verschlüsselt Büchners Sprache. Unvollendete Sätze, geheimnisvolle Metaphern und Bilder, Derbheiten: Der Autor greift tief in die Stilmittelkiste, um seine Charaktere und ihre düsteren Verstrickungen offenzulegen. Und genau in ihnen liegt die Stärke des "Woyzeck". Es geht - lange vor Brecht - ums Fressen und die Moral, um soziale Ungerechtigkeit, Unterdrückung, um Liebe, Verrat, Macht und Gewalt. Die archetypischen Themen also.

Woyzeck, der einfache Soldat, ist in jeder Beziehung das machtlose Opfer: Der Hauptmann nutzt ihn physisch wie psychisch aus und erniedrigt ihn, der Doktor sieht in ihm keinen Menschen, sondern lediglich ein medizinisches Versuchsobjekt, einen "außergewöhnlichen Kasus", die geliebte Marie nimmt zwar Woyzecks weniges Geld, entlohnt ihm dies aber nicht mit Treue, sondern lässt sich auf den eitlen, aggressiven Tambourmajor ein. Es ist ein Zustand auswegloser Verzweiflung, in dem sich die Hauptfigur befindet - der sich erst in irrem Wahn und schlussendlich einem furchtbaren Verbrechen entlädt. "Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht." So lautet die bittere Erkenntnis.

Michael Liebs Inszenierung des "Woyzeck" ist minimalistisch und trotzdem martialisch. In militärischem Outfit samt Knieschonern und schweren Stiefeln wütet er durch den Klassiker. Dieser Künstler ist ein echter Maniac - mit allem, was dazugehört, von der totalen Energie bis zur Eitelkeit. Ganz alleine reißt er eine Dynamik auf, die ihresgleichen sucht. Ganz stille Momente und leise, in denen die Sprache angesichts der Vergänglichkeit und Grausamkeit allen Seins verebbt, schlagen immer wieder um in hochexplosive, in denen die gequälte Kreatur ihren Schmerz hinausschreit. Michael Lieb beherrscht die gesamte schauspielerische Klaviatur: ängstliches Flüstern, verwirrtes Stammeln, irres Lachen, wildes Brüllen, verzweifeltes Heulen. So demonstriert er die Macht des Wortes - hier gibt es kein Geleier alter Verse, sonder Emotion pur. Unterstützt von diversen selbst produzierten Zwischenmusiken vom Band, sei es mit Gitarre, Klavier oder Mundharmonika.

Nun würde man sich freilich wünschen, dass das junge Publikum gebannt an Liebs Lippen hinge. Doch dem ist nicht immer so. Zum einen, weil die Badewanne eben doch nicht die Bedingungen eines Theatersaals bietet (hier ist zu viel Licht und Ablenkung), zum anderen, weil Lieb selbst die Konzentration immer wieder "stört" - und zwar mit Interaktion. Regelmäßig bezieht er sein Publikum mit ein, lässt einen anderen Woyzeck Liegestütze stemmen, eine Marie in Glitzerjeans tanzen oder einen Herrn Baron pfeifen. Und nicht nur das: Auch Passanten werden spontan Teil der Inszenierung, seien es Schüler, Pädagogen oder der Hausmeister. "Was geht er denn so schnell, der Woyzeck?", fragt Lieb und deutet auf einen überrascht Vorbeihastenden. Das Auditorium lacht. Für Lieb, das spürt man, ist das völlig okay. Hier, in diesem Moment, soll große Literatur Teil des Lebens werden - und da gehört nun mal auch die Heiterkeit dazu.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: