Süddeutsche Zeitung

Forstinning:"Spätestens in fünf Jahren ersticken wir hier im Verkehr"

Lesezeit: 4 min

In Forstinning kämpfen die Anwohner der Ortsdurchfahrt seit Jahren für eine Umgehung, andere wollen den Bau verhindern. Besuch bei Menschen, die dort als Kinder Sandburgen bauten - und sich jetzt vor Lastern verschanzen.

Von Korbinian Eisenberger, Forstinning

Hans Ehrnstraßer ist 79, und wenn er im Dezember Geburtstag feiert, hat er acht Jahrzehnte auf diesem Hof gelebt. In dem Bauernhaus, wo in der Stube der Herrgottswinkel hängt, und hinter der Haustür ein Gedicht. "Wir lieben die Heimat, das häusliche Nest", heißt es dort in einer Verszeile. Doch wenn die Holztür neben dem Gedicht aufgeht, verblasst die bäuerliche Romantik. Vor der Hausmauer rauschen dann Lastwagen vorbei, die einen den Fahrtwind noch auf der Türschwelle spüren lassen. So fühlt sich Heimat an, wenn ein Dorfweg zum Verkehrsknotenpunkt geworden ist. Was tun gegen den Lärm? Manchmal bekommt Altbauer Ehrnstraßer Vorschläge wie diese: Zieht's halt woanders hin. Als könnte er den Hof wechseln wie einen Leasingwagen.

Die Gemeinde Forstinning im Kreis Ebersberg lässt erahnen, wie der Zuzug von Mensch, Industrie und Gewerbe den Großraum München über die Jahrzehnte verändert hat. Als Kind hat Hans Ehrnstraßer auf dem Weg vor seinem Elternhaus Fangen gespielt. Mittlerweile ist das Dorfstraßerl zu einer Hauptverbindung zwischen München und Südostbayern geworden. Und zum Kern eines Streits, der den Ortsteil Schwaberwegen seit Jahren spaltet. Die Anwohner der Durchfahrtsstraße sehnen eine Umgehung herbei, zu ihnen zählen die Ehrnstraßers. Es gibt aber auch Dorfbewohner, die das anders sehen.

Vor einigen Wochen ist das Planfeststellungsverfahren für die Umgehungsstraße eingeleitet worden, unweit des Ortsteils Schwaberwegen soll sie gut tausend Meter durch den Ebersberger Forst geschlagen werden. Nachdem Forstinnings Gemeinderat das Projekt beschlossen hat, ist nun der nächste große Schritt eingeleitet. Für die Befürworter der Umfahrung könnte dies jedoch zur Hängepartie werden. Der Grund: Bewohner des Waldrands bei Schwaberwegen haben sich mit Naturschützern vereint. Sie wollen den Bau verhindern - oder zumindest möglichst lange hinauszögern. Als Motiv geben sie meist den Schutz eines wertvollen Waldstücks an, weniger die Nähe der Straße zur eigenen Behausung.

Erst das Aldi-Lager, dann die A 94: Das Ende des Dorfstraßerls

Dienstagvormittag in Forstinning, die morgendliche Rushhour ist vorbei, doch auch jetzt rauscht ein Lastwagen nach dem anderen durch den Ort. Fast jedes Grundstück ist mit einer Schallschutzwand aus Holz zur Straße hin versehen, manche haben sich regelrecht verbarrikadiert. "Mittlerweile kann ich selbst am Wochenende nicht mehr im Freien sitzen", sagt einer, den der Lärmpegel mit am gravierendsten trifft: Helmut Korb lebt seit 41 Jahren in Forstinning, das Haus an der Kreuzung hat er 1978 gekauft. Noch im selben Jahr, im Oktober, errichtete der Konzern Aldi im Norden der Kreisstadt Ebersberg den ersten Teil seines Auslieferungslagers für den südostbayerischen Raum. Die Zeiten, in denen auf der Dorfstraße Kinder spielten, waren fortan Geschichte.

Korb wohnt an der Schnittstelle zwischen Anzing, Ebersberg und der Autobahn, er bekommt den Verkehrslärm von zwei Seiten ab. Der 75-Jährige zeigt auf seine Grundstücksmauer, die zur Straßenseite hin schwarz gefärbt ist - die Abgase. "Vor kurzem hätte ein SUV beinahe meine Frau überfahren", erzählt er. Weil die Autos an der Kreuzung hinter der Ampel beschleunigen, "und übersehen, dass da noch eine Fußgängerampel kommt". Seine Frau reagierte rechtzeitig und kam mit dem Schrecken davon. Helmut Korb steht jetzt vor seinem Haus, er spricht laut, damit er gegen den Straßenlärm ankommt. Er sagt, ruft es fast: "Spätestens in fünf Jahren ersticken wir hier im Verkehr."

An der Hauptstraße durch Schwaberwegen hängt an fast jedem Haus ein Plakat: "Lebensqualität für alle, Ortsumfahrung: JA." - unterzeichnet von der "Bürgergruppe Schwaberwegen/Moos". Die Gegner des Baus wiederum - der Verein "Bürgerinitiative St 2080 Schwaberwegen Moos" - machen ihrerseits Werbung. In diesen Tagen finden die Bewohner der Nachbargemeinde Flugblätter in ihren Briefkästen, "Anzinger wacht auf", heißt es darin, mit einem Link zu einem Formular für Einwendungen. Und einer Warnung: Die Umfahrung bringe Anzing mehr Verkehr ein. So steht es zumindest auf dem Flugblatt.

Die Menschen in Forstinning kämpfen für ihre Interessen, so wie viele andere auch - und über all dem steht die Frage, welches Anliegen mehr wiegt: Der Schutz der Menschen vor dem Lärm? Oder der Schutz der Natur vor dem Mensch?

Für das Ehepaar Reinhold Schlierf ist der Fall klar, sie wohnen in zweiter Reihe gut 30 Meter von der Hauptstraße entfernt. "Die Leute am Waldrand hätten immer noch mehr als doppelt so viel Abstand zu der neuen Straße", sagt Reinhold Schlierf. Der 74-Jährige wuchs im Nachbarhaus direkt an der Straße auf, und erinnert sich vier Jahrzehnte zurück. Seine Eltern gaben damals 1,50 Meter von ihrem Grund gegen einen Obolus her, "damit dort ein Bürgersteig gebaut werden konnte". Den Gehweg hatten die Anwohner damals per Unterschriftensammlung erwirkt. Wo er einst aufwuchs, lebt nun ein junges Paar mit vier Kindern, darunter Zwillinge. Ein Problem der Familie: An den Engstellen ist der Bürgersteig weniger als einen Meter breit. "Da kommen sie mit ihrem Doppelkinderwagen nicht vorbei", sagt Schlierf.

Zurück auf der Hauptstraße, wo Laster durch den Regen rauschen und sich für Sekundenbruchteile wie Wände vor den Häusern aufbauen. Viele haben Jahrzehnte hier gewohnt, nicht wenige zogen her, als Forstinning noch ein Dorf war und kein Verkehrs-Hotspot. Ähnlich argumentieren aber auch die Bewohner des Waldrands, die nun das Chaos in ihrer Nähe befürchten. Mit dem Aldi-Lager Ende der Siebziger und dessen Erweiterung fing alles an, später kamen ein Autohaus und eine Spedition hinzu. 1979 wurde die damals sechs Meter breite Staatsstraße 2080 erstmals ausgebaut, vier Jahre später begann das Planfeststellungsverfahren für die A 94.

"Muss Schwaberwegen für Ebersberg büßen?" titelt die SZ im Juni 1978

"Angst vor den dicken Brummern: Muss Schwaberwegen für Ebersberg büßen?", titelte die SZ am 6. Juni 1978 in einem Lokalartikel. Drei Jahre später sagte der damalige bayerische Innenminister Gerold Tandler dem Ort eine Umgehung zu, sobald die Durchfahrt die Tagesmarke von 6000 Fahrzeugen knackt. Messungen des staatlichen Bauamts ergaben zuletzt je nach Standort der Erhebung zwischen 10 000 und 13 000 Fahrzeuge am Tag.

Zurück auf dem Hof der Ehrnstraßers. Das Schlafzimmer haben die Bauersleute von der Straßenseite nach hinten verlegt, die Stubenfenster bleiben verschlossen. "Weil meine Frau den Fernseher sonst gar nicht mehr hört", sagt Hans Ehrnstraßer. Der 79-Jährige erzählt, wie er nach Kriegsende mit seinen Spezln zwischen Reitern und Ochsenkarren auf der Straße spielte und am Tor Richtung Ebersberg Fünferl und Zehnerl von Passanten einkassierte. Wie die eisenbeschlagenen Reifen der Fuhrwerke den Kies zermalmten. "Den Staub haben wir gesammelt, mit Wasser gemischt und Sandburgen gebaut", sagt er. 70 Jahre später bestehen die Mauern am Straßenrand aus Lärmschutzwänden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4664093
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.