Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:46 Polizeieinsätze in 166 Tagen

Im Schnitt zwei Mal pro Woche müssen die Beamten in die Traglufthallen nach Pliening und Grub ausrücken. Warum ist die Situation dort so angespannt wie in keiner anderen Unterkunft?

Analyse von Korbinian Eisenberger

Am Mittwoch ist Poings Polizeichef Helmut Hintereder mit dem Landrat beim Chefgespräch gesessen, einmal im Jahr kommen dann die wichtigsten Themen auf den Tisch. Hintereder legte Robert Niedergesäß das Einsatzprotokoll einer Problemzone vor - die Plieninger Traglufthalle, wo Mitte Mai 200 Flüchtlinge eingezogen sind.

Bilanz: 46 Polizeieinsätze in 166 Tagen, im Durchschnitt zwei pro Woche. Mit dem Brand und dem Umzug nach Grub beginnt die Statistik von vorn, danach ist es in der dortigen Traglufthalle allein in den ersten zehn Tagen zu acht Einsätzen gekommen, darunter eine wüste Schlägerei mit vier Verletzten. Derzeit spricht wenig dafür, dass sich die Stimmung in der letzten Massenunterkunft des Landkreises Ebersberg entspannt.

Im Datenarchiv der Polizei wird jede Kleinigkeit registriert, doch seit einigen Wochen arten scheinbare Lappalien in der Plieninger Halle immer häufiger in Gruppenschlägereien aus, und die Polizei rückt zu Großeinsätze aus. Ein Problem machen Helfer und Polizei in zwei Lagern aus - muslimische Syrer und christliche Eritreer, zwischen denen unter den Tragluftkissen eine Art Kleinkrieg herrscht.

Diese kulturellen und religiösen Probleme gibt es auch in kleineren Unterkünften, nur dass dort die Helfer näher an den Bewohnern dran sind, in der Traglufthalle ist das schwierig, weil man nicht zu den Schlafräumen darf. Polizeichef Hintereder fasst es so zusammen: "80 Prozent unserer Einsätze in Asylbewerberheimen sind in Massenunterkünften" - also in Pliening und in Grub.

Wegen Beobachtungen wie dieser fordern die örtlichen Helferkreise in Poing und Markt Schwaben seit längerem, die Bewohner in kleine Unterkünfte zu verlegen, die Plieninger Helfer schrieben sogar einen öffentlichen Beschwerdebrief an den Landrat. Nicht dass es irgendwann mal so eskaliert wie im Nachbarlandkreis Erding, wo ein 20-Jähriger Flüchtling im Streit erstochen wurde. Oder wie in Garmisch-Partenkirchen, wo der Brandbrief einer Bürgermeisterin wegen der Situation in der dortigen Kasernen-Unterkunft internationales Aufsehen erregte.

Die bayerische Landesregierung zeigt bisher wenig Reaktionen, in der CSU gelten Massenunterkünfte nach wie vor als Option. Am 30. September wohnte ein Fünftel der 137 000 in Bayern untergebrachten Asylbewerber in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften, wie das Sozialministerium mitteilt. Der Ebersberger Landtagsabgeordnete Thomas Huber (CSU) hatte unlängst Kritik aus dem Lager der Grünen an dem Festhalten an Traglufthallen zurückgewiesen, und auch im Ebersberger Landratsamt hat man keine Möglichkeit, die Traglufthallen im Landkreis vorzeitig aufzulösen: Mitte der Woche teilte die Kreisbehörde mit, dass die Plieninger Halle Ende November wieder bezogen werden soll.

Wie die beiden Ebersberger Hallen stehen auch die anderen sieben bayerischen Traglufthallen allesamt in Oberbayern, vier davon im Landkreis München. Im größten Regierungsbezirk Bayerns sind - hochgerechnet auf die Bevölkerung - sogar etwas weniger Flüchtlinge untergebracht als etwa in Schwaben oder in der Oberpfalz. Allerdings gibt es dort kaum verfügbaren Wohnraum, wie es von den Landratsämtern immer wieder heißt. Klar ist: Von einer Wohnungssituation wie in Niederbayern oder Mittelfranken können Regionen wie Ebersberg, Dachau oder der Landkreis München nur träumen.

Klar ist auch: In Traglufthallen kommt es öfter zum Eklat als in kleinen Flüchtlings-Unterkünften. Es gebe zwar auch dort Einsätze, sagt Stefan Sommer, Sprecher der Polizei Oberbayern Süd. "Je größer aber die Unterkunft ist und je mehr Menschen auf engem Raum sind, desto häufiger gibt es Konflikte", diese Feststellung macht auch ein Sprecher der Polizei Oberbayern Nord. Ist es also ganz normal, dass es in Pliening und Grub so oft kracht?

In keiner anderen bayerischen Traglufthalle gibt es mehr Probleme

Aus den landkreisweiten Helferkreisen ist immer wieder zu vernehmen, dass die Situation in Pliening verglichen mit anderen Traglufthallen besonders gravierend sein soll. Dass es in der Halle an Komfort und Wohnlichkeit fehle, weil es keinen Kiosk gibt, dafür Schwierigkeiten mit Securitys, Häufungen von technischen Defekten und Probleme mit Mitarbeitern des Landratsamts. "In anderen Traglufthallen läuft es besser", sagt Thomas Krahe, Sozialarbeiter und einer der führenden Kräfte beim Helferkreis Markt Schwaben, etwa in Dachau, oder im Landkreis München.

Indizien für das Frust-Level liefert ein Vergleich der Einsatzzahlen der Polizei. Die Dachauer Polizeidienststelle teilt mit, dass es in der Karlsfelder Traglufthalle in den elf Monaten vor der Räumung Ende September zu 56 Einsätzen kam, in der Bergkirchener Halle waren es seit Januar insgesamt 50 Einsätze. "Die Einsätze sind weniger geworden, weil sich die Bewohner arrangiert haben", sagt ein Sprecher.

Im Landkreis München kommt die Polizei auf jährlich etwa je 50 Einsätze in den Traglufthallen in Grünwald und Unterföhring, durchschnittlich 27 sind es jeweils in Haar und Unterhaching, auch dort sind die Einsatzzahlen zurückgegangen, etwa weil inzwischen weniger Bewohner in den Hallen untergebracht sind. Ähnlich ist nach Auskunft der örtlichen Polizei die Situation im Landkreis Miesbach, wo ebenfalls zwei Traglufthallen stehen. Keine andere Halle macht der Polizei so viel Arbeit wie die in Pliening oder Grub.

Isolation aus der realen Welt

Die Möglichkeiten des Ebersberger Landratsamts, hier etwas zu verändern, sind sehr begrenzt. Die Ausstattung der Plieninger Halle entspreche den "Leitlinien des Sozialministeriums zur Art, Größe und Ausstattung von Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber", teilt eine Sprecherin mit. Die Brandschutzvorgaben würden die Ausstattungsmöglichkeiten einschränken, etwa, weil Fluchtwege freigehalten werden müssten. Die Sprecherin verweist auf die bisherigen Bemühungen des Landratsamts, dezentralen Wohnraum zu schaffen: "Im Moment gibt es im Landkreis zu dieser Unterbringung keine Alternative."

Wo soll das noch hinführen? Das fragen sich im Landkreis Ebersberg derzeit vor allem die Helferkreise. In Markt Schwaben, wenige Kilometer von Grub und Pliening entfernt, haben sie sich formiert, dort können sich Ehrenamtliche aus der Region fachlichen Rat holen. In den Helfer-Café-Seminaren sprechen dann Fachleute wie der Psychotherapeut Wilhelm Beckert.

Eigentlich ist die Stimmung bei Tee und Salzstangen gelöst, doch am Donnerstagabend hat der Experte keine guten Nachrichten. "Eine Wohnsituation wie in der Plieninger Halle isoliert die Menschen von der realen Welt", sagt Beckert, der selbst Flüchtlinge betreut und psychologisch behandelt. Mit zunehmender Dauer verstärke sich dies. "Wenn der Mensch keine Perspektive hat, dass sich eine schlechte Wohnsituation ändert, dann führt das zu Frust und Aggression", sagt er. Ganz egal ob bei einem Zuwanderer oder einem Einheimischen.

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SZ vom 12.11.2016/koei
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