Forschungsprojekt in Vaterstetten:"Viele haben alles zurückgelassen"

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Das Album mit den Hochzeitsfotos von Elfriede und Johann Ziegler. Erst wollte sie von ihm, dem Flüchtling, lieber nichts wissen. Doch der Einfallsreichtum und Tatendrang des jungen Mannes beeindruckte sie dann doch. (Foto: Konstantin Schätz/oh)

15 000 Menschen kamen nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlinge in den Landkreis Ebersberg. Die Gemeindearchivarin Ulrike Flitner aus Vaterstetten ist auf der Suche nach ihren Geschichten.

Von Konstantin Schätz, Vaterstetten

Schwarz-Weiß-Fotografien, veraltete Landkarten und vergilbte Dokumente bedecken den Tisch von Elfriede Ziegler. Immer wieder zieht sie neue Bilder aus einem Fotoalbum. Sie veranschaulichen die Geschichte einer Flucht und eines Neuanfangs in der Gemeinde Vaterstetten. Ihr Alter merkt man der 90-Jährigen nicht an, als sie Ulrike Filtner, der Gemeindearchivarin von Vaterstetten, von der Flucht ihres inzwischen verstorbenen Mannes erzählt.

Es ist die Geschichte von Johann Ziegler. Zusammen mit seiner Familie floh er 1944 aus der damals ungarischen Stadt Werbass, in der seit dem 18. Jahrhundert viele Deutsche wie er lebten. Aus Angst vor den russischen Soldaten begab er sich mit seinen Verwandten auf das Schiff einer Zuckerfabrik und flüchtete flussaufwärts über die Donau. "Er ist immer am Bug des Zuckerschiffs gesessen und hat Ausschau nach Wasserminen gehalten", erzählt Elfriede Ziegler. Zwei Jahre dauerte die Flucht. Seine Tante, sein Onkel, seine Großmutter und er kamen ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Vaterstetten. Es war das Ende einer langen Reise und der Anfang einer komplizierten Beziehung zwischen ihnen - den Flüchtlingen - und den Alteingesessenen in der Gemeinde.

Geschichten wie diese dürfen nicht in Vergessenheit geraten. So sieht es Ulrike Flitner. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erzählungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg festzuhalten. Ursprünglich wollte sie eine Ausstellung über Höfe, Siedlungen und Baracken in Vaterstetten aus dieser Zeit machen. Bei ihrer Recherche wurde sie auf die Geschichten aufmerksam, die sich hinter den Wänden abspielten. Nicht nur eine Ausstellung, sondern auch ein Buch sei nach Abschluss ihrer Recherchen geplant, erzählt sie.

Fünf Personen haben sich bereits bei ihr gemeldet. Meist waren es die Kinder der Geflüchteten, die Ulrike Flitner kontaktiert haben. Die Flüchtlinge von damals seien heute zwischen 80 und 90 Jahre alt. Bei den Recherchen sei Fingerspitzengefühl gefragt, erklärt Flitner: "Häufig sind die Geschichten schmerzhaft. Viele der Flüchtlinge haben alles zurückgelassen, als sie geflohen sind." Auch ihre Eltern seien Flüchtlinge gewesen. Sie wisse aus nächster Nähe, dass die Menschen nach ihrer Flucht in Bayern nicht mit offenen Armen empfangen wurden.

Archivarin Ulrike Flitner (links) sammelt Geschichten wie die von Elfriede Ziegler und ihrem Mann. (Foto: Konstantin Schätz/oh)

"Man musste über viele Matratzen steigen, um ins Bett zu kommen"

Auch Johann Ziegler musste diese Erfahrung in Vaterstetten machen. Als er in die Brennerei ihrer Familie kam, konnte Elfriede ihn nicht leiden. Sie wollte ihm nicht ins Gesicht schauen. "Er war sehr groß, deswegen habe ich einfach immer seinen Oberkörper angeschaut", erinnert sie sich. Später konnte sie seinem Gesicht nicht nahe genug sein. Für das Hochzeitsfoto stellte sich Elfriede auf Telefonbücher, um den Größenunterschied auszugleichen.

Doch als Johann Ziegler als junger Mann in die Gemeinde kam, war er ein Eindringling. "Zuvor hatten wir eine relativ große Wohnung. Meine Geschwister und ich hatten sogar jeweils ein eigenes Kinderzimmer", erzählt die 90-Jährige. Als die Flüchtlinge kamen, beschlagnahmte die Wohnungskommission einen Großteil der Zimmer. Insgesamt 13 Flüchtlinge, unter ihnen Johann Ziegler, wurden in ihrem Haus untergebracht: "Man musste über viele Matratzen steigen, um ins Bett zu kommen", sagt Elfriede Ziegler und lacht.

Zwei Millionen Menschen flohen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Bayern. 15 000 davon in den Landkreis Ebersberg. "Um 1950 waren 29 Prozent der Gesamtbevölkerung im Landkreis Flüchtlinge", erklärt Bernhard Schäfer vom Historischen Verein Ebersberg. Die meisten davon seien Sudetendeutsche, Schlesier oder Südostdeutsche gewesen. In dieser Zeit sei es zu massiven Spannungen zwischen den Einheimischen und den neuen Bewohnern gekommen. "Obwohl die Flüchtlinge auch Deutsche waren, war man sich fremd. Es gab Sprachbarrieren durch die Dialekte, unterschiedliche Bräuche und verschiedene Konfessionen", erklärt Schäfer. Der Versuch von jungen Menschen, sich den Flüchtlingen anzunähern, sei nicht gut angekommen - vor allem nicht bei den Älteren.

Erst als Johann kurzerhand einen eigenen Herd in das Zimmer baute, in dem er mit seiner Tante, seinem Onkel und seiner Großmutter lebte, weckte er das Interesse von Elfriede. "Da habe ich ihn dann das erste Mal richtig wahrgenommen", erzählt sie. Mittlerweile hat sich Karin, die Tochter von Elfriede, mit an den Tisch gesetzt. Sie blättert in einem Fotoalbum, während ihre Mutter erzählt, wie sich ihr Vater nach und nach einen Namen in der Gemeinde erarbeiten konnte.

Die Leistung der Flüchtlinge

"Er und sein Bruder haben eine Tabak-Schneidemaschine entwickelt. Das musste damals noch per Hand geschnitten werden. Ihre Maschine hat das viel feiner hinbekommen", sagt Elfriede. Sie lächelt, als sie von Johanns Erfindungen erzählt. Der Stolz auf ihren Mann ist ihr anzumerken. Das Material für die Tabak-Schneidemaschine hatten sie sich von einem zerstörten Jagdflieger geholt.

Im Laufe der Zeit erfand Johann Ziegler Geräte für Brennereien und verkaufte sie. Vor allem ein Gerät zur Malzaufbereitung verhalf seinem Familienbetrieb zum Erfolg. "Er wollte alles maschinell machen", erinnert sich Elfriede. Die Tochter Karin nickt, als sie ihrer Mutter zuhört: "Er hat sich immer alles selbst angeeignet", fügt sie schließlich hinzu.

Der Bleistift von Ulrike Flitner fliegt über das Papier. Sie will die Erfolgsgeschichte von Johann Ziegler festhalten, der mit nichts in dieser Gemeinde ankam und so viel erreichte. Für sie ist er der Beweis, was Flüchtlinge geleistet haben, um sich ein neues Leben aufzubauen. Spurlos ging die Flucht über die Donau nicht an Johann Ziegler und seiner Familie vorbei. Im Jahr 1970, also mehr als 25 Jahre nach Aufbruch von Werbass, starb Johann Ziegler. Der Arzt vermutete einen Leberschaden - verursacht durch eine verschleppte Hepatitis, die er auf der Flucht bekam.

© SZ vom 30.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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