Wie kam es zum Brexit? Warum lehnt das Unterhaus alle Optionen ab? Könnte eine zweite Volksabstimmung die Gemengelage in Großbritannien auflösen? Und was kann Europa aus dem ganzen Schlamassel lernen? Es sind Fragen, die sich dieser Tage viele stellen dürften, die das Brexit-Drama verfolgen. Antworten gab es am Montagabend von Robert Harrison. Der gebürtige Engländer und Kandidat für die Europawahl sprach bei der FDP-Kreishauptversammlung im Eglhartinger Gasthof Hamberger. Mit symbolträchtigem Arm in der Schlinge versuchte der Landsmann eines politisch lahmgelegten Staats, die immer undurchsichtigere Gemengelage zu erklären.
Während die Briten drauf und dran waren, in der zweiten Runde von Probeabstimmungen wieder alle Brexit-Lösungen abzuschmettern, begann der Zornedinger, der als Patentanwalt durch das Europa ohne Grenzen jettet, mit dem Brexit-Urknall. Nämlich 2012, als die regierenden Konservativen "am Boden waren", die EU-skeptische Ukip-Partei immer beliebter wurde und sich der damalige Premierminister David Cameron von einem Brexit-Votum Geschlossenheit in der Partei versprach. "Er hat nicht damit gerechnet, dass er tatsächlich gewinnt", so Harrison.
Die Brexit-Lawine war losgetreten - und gewann dank des Mix aus empfänglichen Briten, gespaltenen Konservativen, einer EU-skeptischen Opposition und Falschinformationen eine ganz eigene Dynamik. Empfänglich waren die Briten, "weil sie die EU mit dem Verlust ihres großen Empire assoziieren", erklärte Harrison seinen 20 Parteifreunden in seinem charmanten britischen Akzent. Während Deutschlands Eintritt in die Montanunion 1955 der "Eintritt in die westliche Wirtschaftswelt" war, verlor Großbritannien bei seinem Eintritt 1972 gerade alle seine Kolonien. "Das prägt die Mentalität bis heute." Dazu entwickelte sich in dem "kaputtgesparten Land" eine Protesthaltung: Weil viele der Bergbauer nicht wie in Bayern unterstützt wurden, sondern von Gutverdienern zu Niedriglohn-Arbeitern abrutschten, entwickelte sich mancherorts ein "riesiger Hass gegen die Regierung". Eine Wut, die vor Ort kaum aufgefangen wurde: "In Großbritannien gibt es keine Regionalregierungen", erklärte der mittlerweile Eingebürgerte, in vielen Städten fehle ein Bürgermeister.
Wieso hielten EU-Befürworter wie die jetzige Premierministerin Theresa May nicht effektiv gegen diese Anti-EU-Stimmung? Harrison skizzierte eine gespaltene konservative Volkspartei mit zwei Lagern: auf der seinen Seite die "Little Englanders" um die damalige Innenministerin Theresa May, die das Land vor allem von übermäßiger Einwanderung abschotten wollten; auf der anderen Seite die "Globalisten" um den damaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson, die sich von einem Brexit erhofften, eigene Freihandelsabkommen mit Ländern wie Indien, USA und China abschließen zu können.
Und die Opposition? Harrison, der 1990 nach Deutschland kam, erinnerte daran, dass der jetzige Labour-Parteivorsitzende Jeremy Corbyn selber bekannter EU-Gegner ist. Als Jungspund hatte er für eine Brexit-Volksabstimmung gekämpft; 1975 stimmten allerdings noch zwei Drittel für den Verbleib. Dazu kamen gezielte Falschinformationen wie die Behauptung, dass man der EU jede Woche 350 Millionen Pfund überweisen würde und das Geld doch direkt in das Gesundheitssystem stecken könnte. "Die Statistikbehörde hat sogar noch drauf aufmerksam gemacht, dass das nicht stimmt", so Harrison, "aber diese Information ist leider untergegangen."
Der Brexit ist nun beschlossen, die Situation verfahren. Wieso fand sich am Dienstag wieder keine Mehrheit für eine Lösung? Das Abkommen mit der EU scheitert regelmäßig an der Nordirlandfrage. Um Frieden im ehemaligen Bürgerkriegsgebiet zu wahren, will die EU die Grenze offen halten. Der viel zitierte "Backstop" sieht vor, dass sich Nordirland zwangsläufig wohl weiterhin an EU-Gesetze halten müsste. "Für die Nationalisten keine Option", so Harrison. Mit der "Norwegen-Option" aus Zollunion plus Binnenmarkt haderten wiederum Einwanderungsgegner wie May. Einen immer wahrscheinlicheren Austritt ohne Abkommen ("no deal") schätzte er als unwahrscheinlich ein.
Er fasste mit der heilen Hand an sein Herz. Sein persönlicher Wunsch nach einer zweiten Volksabstimmung wurde in eben diesen Minuten im Unterhaus abgelehnt. Und selbst wenn es doch noch dazu käme, "dann löst es die Spaltung im Land nicht. Brüssel wird immer der Schuldige bleiben." Mittlerweile wird er in London auf der Straße angesprochen, wenn er Deutsch spricht, "dann switche ich wieder ins Englische". Harrison hat seine Lehren aus dem Brexit gezogen. "Man muss auch die abgelegenen Regionen mitbetreuen", sagt er, "niemand darf sich von der Politik ausgeschlossen fühlen."