Familienzentrum Ebersberg:"Den Notruf kann jeder tätigen"

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Rollenspiele sind bei dem Zivilcourage-Kurs ein wichtiger Bestandteil. Dadurch können die Polizisten Felix Hirn und Julia Merkel zeigen, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten kann. (Foto: Christian Endt)

Ein Zivilcourage-Kurs von Polizei und Frauennotruf will die Teilnehmerinnen ermutigen, bei Krisensituationen im öffentlichen Bereich einzugreifen

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Der Bus ist beinah menschenleer, da betritt ein Mann mit Mütze und Sportjacke die Szene. Zielstrebig steuert er eine allein sitzende Frau an und fordert sie harsch auf: "Ey du, wir kennen uns doch. Rutsch rüber." Als die Frau nicht reagiert, nimmt er ihr gegenüber Platz und pöbelt weiter: "Ich hab' dir doch letztens einen Drink ausgegeben, und dann hast du mich stehen lassen. Ich krieg noch zehn Euro von dir!" Die Frau schweigt und schaut weg, die Situation scheint ihr unangenehm zu sein. Das reizt den Pöbler noch mehr. Immer lauter und aufdringlicher wird er. Plötzlich stehen drei andere Fahrgäste neben ihnen. Eine Frau filmt mit ihrem Handy den Täter und das Geschehen, die anderen beiden reden schnell und leise auf die drangsalierte Dame ein und führen sie weg von dem Schauplatz. Zurück bleibt ein etwas ratloser Angreifer.

"Das war optimal", kommentiert eben dieser dann die Szene und zieht sich die Mütze ab. Im wahren Leben heißt er Felix Hirn und ist Polizeiobermeister bei der Ebersberger Polizei. Gemeinsam mit seiner Kollegin Julia Merkel leitet er den Kurs "Zivilcourage", zu dem auch Rollenspiele wie diese gehören. Er fragt die Teilnehmerinnen: "Darf man jemand anderen mit dem Smartphone filmen?" Nein, ist die einhellige Meinung, aber in so einem Fall? Felix Hirn nickt und sagt: "Bei Notwehr, ja."

Etwa 20 Frauen unterschiedlichen Alters haben sich an diesem Sonntagvormittag in den Räumen des Familienzentrums Ebersberg eingefunden; die jüngste Teilnehmerin ist im Teenager-Alter. Der Zivilcourage-Kurs findet zum dritten Mal statt, ins Leben gerufen hat ihn Marina Matjanovski, Ortsvorsitzende der Frauen-Union Ebersberg. Unterstützt wird sie dabei von der Polizeiinspektion Ebersberg und dem Frauennotruf. "Das Rezept für ein gewaltfreies Frauenleben gibt es nicht", sagt Matjanovski gleich zu Beginn und attestiert eine gewachsene Gewaltbereitschaft in vielen Bereichen; sei es in Form von Hetze im Internet, sei es in Form politisch motivierter Gewalt. Wie verhalte ich mich richtig in gewalttätigen Situationen? Wie helfe ich, ohne selbst Opfer zu werden? Der Kurs, das betont Matjanovski, solle keine Ängste schüren, sondern Mut machen.

"Warum helfen wir nicht?", wollen die Polizisten wissen und beziehen sich dabei auf Stänkereien oder Handgreiflichkeiten im öffentlichen Raum. "Aus Angst", sagen mehrere Teilnehmerinnen. Vielleicht auch aus Unsicherheit und der Erwartung heraus, dass die anderen schon handeln würden, vermuten andere. Felix Hirn bestätigt: "Erst einmal muss man eine Situation als Notsituation einschätzen." Dazu brauche es etwa auch die Empathiefähigkeit gegenüber dem Opfer. Außerdem hätten viele Angst vor einer Blamage - etwas, das für Erwachsene besonders schlimm sei. Er ermutigt: "Den Notruf kann jeder tätigen - auch ohne Netz und Guthaben funktioniert das auf jedem Handy."

Viele Fragen und Geschichten tauchen seitens der Teilnehmerinnen während des dreistündigen Kurses auf, welche die Polizisten und die Expertinnen vom Frauennotruf geduldig annehmen. Jede der anwesenden Frauen hat schon einmal eine derartige Situation erlebt, in der sie entweder Opfer oder Helfende oder auch nur Zuschauerin war. Was etwa, wenn es zu offensichtlich partnerschaftlicher Gewalt auf der Straße kommt? Eine Teilnehmerin erzählt, dass sie in München einen stark alkoholisierten Mann beobachtete, der seine Freundin am Pferdeschwanz auf den Boden zog. Aus Angst, durch ein Eingreifen den Mann noch mehr zu erzürnen, was letztlich seine Partnerin würde büßen müssen, tat sie nichts. "In solchen Fällen rufen oft Unbeteiligte die Polizei",sagt Angela Rupp, Geschäftsführerin des Frauennotrufs. Man könne auch helfen, indem man sich dann als Zeuge bereit stelle. Hier einzugreifen sei auch wichtig, um die betroffenen Frauen zu stärken, so Rupp: "Ganz oft zweifeln diese Frauen an ihrer eigenen Wahrnehmung und empfinden die Gewalt schon als normal."

Auch die rechtliche Seite der Zivilcourage wird an diesem Vormittag unter die Lupe genommen. Neu für viele ist etwa die Tatsache, dass Menschen, die sich in Notsituationen wehren, gegebenenfalls erst einmal auch zu Beschuldigten in einem Strafverfahren werden können. "Aber", räumt Polizist Felix Hirn ein, "eine Anzeige wegen Körperverletzung ist in dem Fall nicht unbedingt etwas Schlechtes." Wenn im Verfahren dann der Tatbestand der Notwehr nachgewiesen wird, würde die Anzeige natürlich fallen gelassen. "Ein gewisser Verwaltungsaufwand, das gebe ich zu", so Hirn, "aber nur so können wir sicher gehen, dass nichts hinten runterfällt."

Eine Mischung aus Gelächter und Erstaunen über die eigene Stimmkraft tut sich auf, als die Frauen selbst laut werden sollen. Nach dem Beispiel von Polizistin Julia Merkel, die mit gestrafften Schultern und klarer Körpersprache einen gespielten Angreifer in seine Schranken weist, stellen sich alle Teilnehmerinnen nun gegenüber voneinander auf. Die eine Seite pöbelt, die andere schreit laut "Stopp!" und hält sich dabei mit ausgestrecktem Arm den Gegenüber vom Leib. "Die Hand nicht ins Gesicht halten, sondern auf Brusthöhe", rät Polizist Hirn. Sonst könne das nämlich den Angreifer unter Umständen noch mehr anstacheln. Oft helfe schon ein lautes Rufen, das die Aufmerksamkeit anderer auf sich zieht, um aggressives Verhalten zu stoppen. Bei leichter Gegenwehr, so die Polizei-Statistik, lassen schon 68,4 Prozent der Täter ab. Bei massiver Gegenwehr wie Kratzen, Beißen, Schlagen sind es 84,3 Prozent.

Zum Schluss verteilen die Polizisten Trillerpfeifen an die Teilnehmerinnen; die einzige "Waffe", die problemlos benutzt werden kann. Pfefferspray beispielsweise, erklärt Felix Hirn, wirke oft verspätet und in manchen Fällen gar nicht. Neben den vielen handfesten Tipps ist es vielleicht aber auch eine wichtige Erkenntnis, welche die Frauen an diesem Vormittag mit nach Hause nehmen: Nur in den wenigsten Fällen geschieht Gewalt wirklich in mit Angst konnotierten Orten wie der Tiefgarage, der leeren U-Bahn oder dem nächtlichen Park. 95 Prozent von in der Regel sexuellen Übergriffen finden im häuslichen Bereich statt.

© SZ vom 04.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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