Süddeutsche Zeitung

Gleichberechtigung bei der Wahl:"Klasse, dass wir nicht mehr für dumm gehalten werden"

Betreute Menschen dürfen bei der Europawahl erstmals wählen. Was diese Änderung für die Beschäftigten der Steinhöringer Werkstätten bedeutet? Ein Besuch.

Von Franziska Spiecker, Steinhöring

David Kruzolka sitzt, in Arbeitslatzhose gekleidet, in seinem Rollstuhl vor einem Computer im Einrichtungsverbund Steinhöring. Er fährt den Bildschirm runter auf seine Höhe und erklärt, wie das Computersystem "Cabito" ihm und anderen Werkstattbeschäftigten in einfacher Sprache Informationen liefert. Etwa den Speiseplan, der zum leichteren Verständnis für jeden Wochentag in einer anderen Farbe gekennzeichnet ist, oder die Aufgaben und Ziele der einzelnen Gremien im Einrichtungsverbund.

Eines davon ist der Werkstattrat, in den die Beschäftigten alle vier Jahre sieben Vertreter wählen, die beispielsweise auf die Einhaltung von Werkstattverträgen achten oder sich um die Anliegen der Beschäftigten kümmern. Bewerber könnten so oft zur Wahl antreten wie sie wollen, erklärt Kruzolka: "Sechs Wochen vorher hängen Fotos von ihnen aus." Demokratie ist für ihn also kein Neuland, auch wenn er mit 35 Jahren bei der Europawahl im Mai dieses Jahres zum ersten Mal politische Vertreter wählen darf.

"Für uns ist das selbst ganz neu mit den Wahlen, für uns war einfach immer klar, es geht nicht", sagt Kruzolka, der neben einer körperlichen auch eine geistige Behinderung hat. Als Mensch mit gerichtlich bestellter Vollbetreuung war er bislang qua Bundeswahlgesetz vom Wahlrecht ausgeschlossen. Eine Regelung, die das Bundesverfassungsgericht am 29. Januar diesen Jahres als grundgesetzwidrig einstufte, da sie den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl sowie das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung verletze.

Zwar sei es verfassungskonform, Menschen vom aktiven Wahlrecht auszuschließen, wenn "die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht". Allein die formale Anordnung einer Betreuung, so der Tenor des Urteils, sei dafür aber kein hinreichender Sachgrund.

"Es ist schon so, dass man es noch einmal erklären muss."

Dennoch stand für Kruzolka lange in den Sternen, ob er schon bei der Europawahl wählen darf: Hatte die große Koalition zunächst eine Reform des Wahlrechts auf den Weg gebracht, die erst zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten sollte, so gab das Bundesverfassungsgericht Mitte April einem Eilantrag der Oppositionsparteien aus Grünen, Linken und FDP statt, den Wahlausschluss betreuter Menschen schon für die diesjährige Europawahl zu kippen.

Kruzolka freut das, er lächelt, weil ihm gerade eine Idee gekommen ist: "Im Internet können wir ja auch schauen, wie das so abläuft mit der Europawahl", sagt er zu seinen Kollegen Dominik Schindlböck und Simone Müller, die ebenfalls in den Steinhöringer Werkstätten beschäftigt sind. Sie alle wollen wählen gehen. Müller hält ein Informationsheft über die Europawahl in leichter Sprache in der Hand: Was ist die EU? Was wird bei der Europawahl entschieden? Fragen, über die man, wie Kruzolka erklärt, erst richtig nachdenkt, wenn sie einen betreffen.

"Ich finde es klasse, dass wir einfach nicht mehr für dumm gehalten werden", sagt Müller und ergänzt: "Es heißt ja immer ,die schnallen es eh nicht', aber das stimmt nicht, wir brauchen nur unsere Zeit." Kruzolka nickt, man merke im Vergleich zu den 1980er-Jahren, dass man nicht mehr so an den Rand der Gesellschaft gestellt werde, dass es viel Unterstützung gebe.

Wie eine solche Unterstützung seitens der Betreuer vor Wahlen aussehen muss und darf, darüber scheint vieles noch unklar zu sein, zu neu ist die Situation. Eine Betreuerin zeigt auf das EU-Informationsheft in einfacher Sprache: "Es ist schon so, dass man es noch einmal erklären muss." Aber ob sie den Bewohnern auch Parteiwahlprogramme erklären dürfe? Die Frage bleibt zunächst im Raum stehen, bis Müller, die im Unterschied zu Kruzolka und Schindlböck keine gesetzliche Vollbetreuung hat und daher auch zuvor schon wählen durfte, von ihren Erfahrungen berichtet. Ihre Assistentin habe ihr immer die Parteiprogramme besorgt, aus denen sie selbst sich dann die Aspekte rausgesucht habe, die für sie persönlich wichtig seien.

"Für mich als Rollifahrer ist die Mobilität am wichtigsten."

"Arbeiten und Wohnen 4.0" nennt die 55-Jährige als Beispiel: "Wie wird das für uns später?" Es sei wichtig, dass Menschen mit Behinderung auch mitkommen, dass ihnen das gescheit erklärt wird. Und auch Kruzolka, das wird durch seine mehrfache Erwähnung eines Themas schnell klar, hat ein politisches Anliegen, für das er brennt: "Für mich als Rollifahrer ist die Mobilität am wichtigsten."

Da der Bahnhof in Steinhöring zwar barrierefrei sei, nicht aber die Züge, die Stufen beim Einstieg enthalten, habe er bereits einen Brief an die Bayerische Staatsregierung geschrieben. Vor ein paar Tagen, so erklärt Kruzolka, habe er, um Zug fahren zu können, zum ersten Mal einen Hublifter ausprobiert, der sei aber noch zu langsam: "Da bin ich schneller in Wasserburg als der aufgebaut ist."

Die Betreuerin schmunzelt. "Warum lachst du?", fragt Kruzolka. Sie antwortet, ihr sei gerade noch einmal bewusst geworden, dass dieses Jahr viele Menschen erstmalig zur Wahl gehen werden, die bestimmte Ziele haben und schon etwas bewegen könnten. Die Betroffenen anblickend ergänzt sie: "Es ist ein weiterer Schritt dahingehend, dass ihr genauso behandelt werdet wie alle anderen Menschen auch."

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SZ vom 18.05.2019/koei
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