Eine Dame in der hinteren Reihe meldet sich schon lange, als sie endlich aufgerufen wird. Sie räuspert sich und sagt, dass ihre Mutter eine ukrainische Zwangsarbeiterin beschäftigt habe. Nadja hieß sie, erinnert sich die ältere Dame. Sie sei der jungen Arbeiterin als Kind auf Schritt und Tritt gefolgt. „Ich war ihr Schatten“, sagt sie und erzählt, dass sie sogar die Sprache der Ukrainerin gelernt habe. Die junge Zwangsarbeiterin habe für zwei bis drei Jahre „unheimlich fleißig“ auf dem Hof mitgeholfen und wurde von der Familie mit Kleidung und Essen versorgt. Geredet habe sie jedoch kaum, erinnert sich die Zeitzeugin, und das, obwohl sie Deutsch gut verstand. „Am Kriegsende ist sie dann mit einem Lastwagen von den Amerikanern abgeholt worden.“
Es ist nur eine von vielen Geschichten, die an diesem Mittwochnachmittag im Saal „Unterm First“ im Klosterbauhof zu hören sind. Das war auch die Hoffnung von Robert Schurer, als er hierher zur Geschichtswerkstatt eingeladen hatte. Ob sich tatsächlich noch Menschen finden würden, die über die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg erzählen können und wollen – da war er sich aber nicht sicher gewesen. Schurer selbst bezeichnet sich als „Barfuß-Historiker“, sein Berufsleben hat er bei einer Krankenkasse verbracht, als Rentner unternahm er aber einen Ausflug, der für ihn vieles verändern würde: Im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg entdeckte er, dass Ebersberg als Standort eines Außenlagers des Konzentrationslagers in Dachau vermerkt war. „Da bin ich wirklich erschrocken“, sagt Schurer. Von da an steckte der gebürtige Ebersberger viel Arbeit in die Bemühungen, diesen Teil der Geschichte seines Heimatortes aufzuklären. „Da fehlt was in Ebersberg“, sagt er zu seinen Zuhörern und betont, dass kaum jemand seiner Mitbürger von einem Außenlager in ihrer Stadt wisse.
Schurer hat in vielen Archiven nach Dokumenten über dieses Thema und diese Zeit gesucht, seine Erkenntnisse hat er in einer Broschüre über die Rolle Ebersbergs um 1945 zusammengefasst. Die Reaktionen darauf fielen keineswegs nur positiv aus, erzählt er. Überhaupt habe die Publikation einige Emotionen ausgelöst. Allein am ersten Tag habe er 21 Anrufe erhalten. Von anerkennendem Lob bis zu empörten Meinungsäußerungen sei alles dabei gewesen. Warum er das Thema nicht einfach begraben könne, wurde Schurer gefragt. Doch das ist nicht seine Art. „Man kann mit etwas gar nicht aufhören, wenn man noch nicht begonnen hat“, zitiert er einen in den 1930er-Jahren geborenen Ebersberger. Deswegen habe er die Geschichtswerkstatt ins Leben gerufen. Einen Ort, in dem Menschen miteinander sprechen und arbeiten.
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Vor einem Jahr machte Robert Schurer im Haus der Bayerischen Geschichte eine Entdeckung, die ihn aufrüttelte. Jetzt will er gemeinsam mit den Ebersbergern mehr über ein sehr dunkles Kapitel der Geschichte herausfinden.
Und die Ebersberger wollen auch mitmachen: Ungefähr 40 Bürgerinnen und Bürger sind an diesem Nachmittag im Saal versammelt. Eins macht Schurer gleich deutlich. „Das hier ist kein Tribunal“, sagt er und schaut in die Runde. Dass es lediglich um den Austausch und keineswegs um eine Schuldzuweisung geht, ist ihm besonders wichtig. Fokussieren wolle er sich ausschließlich auf die Opferseite. Seinen besonderen Dank für die Zusammenarbeit widmet der Hobbyforscher den Historikern Bernhard Schäfer und Erich Schechner. Auch der Bürgermeister der Stadt Ulrich Proske unterstützt die Nachforschungen im Rahmen einer Patenschaft für die Geschichtswerkstatt.
Eine Frau sagt, das Heimweh der Zwangsarbeiter müsse unerträglich gewesen sein
Noch während der Veranstalter anschließend einige Fragen an seine beiden Mitstreiter Schäfer und Schechner stellt, steht der erste Bürger aus dem Publikum auf und möchte seine Geschichte erzählen. Sein Vater, berichtet er, sei Aufseher im Lager im Ebersberger Forst gewesen. Von circa 100 Kriegsgefangenen habe er ihm erzählt, die meisten davon polnische Kriegsgefangene. Nun gerät der Austausch ins Rollen. Hände werden gehoben, die Ebersberger haben Fragen, Geschichten, Erinnerungen. So auch ein weiterer Bürger, der von seinem Großvater spricht. Dieser habe Zwangsarbeiter im Haushalt gehabt, die im Kirchseeoner Schwellenwerk gearbeitet hätten.
Nun werden so viele Hände gehoben, dass der Veranstalter koordinieren muss. Die Frau, die von Nadja erzählt, weiß noch besonders viel von der Zeit. Auch an die Zwangskennzeichen für Ostarbeiter kann sich die Dame noch gut erinnern. Sie berichtet, wie ihre Mutter gemeinsam mit der ukrainischen Arbeiterin den Aufnäher an der Jacke der jungen Frau angebracht hat. „Nadja hat auf die Außenseite des Mantel-Umschlags gedeutet, doch meine Mutter hat nur den Kopf geschüttelt“, sagt sie, „und ihn auf die Rückseite genäht.“ Ein betretenes Murmeln erfüllt den Raum. Respektvoll und interessiert wird in dieser Geschichtswerkstatt zugehört, genickt und nachgefragt.
Jeden Sonntagnachmittag, ergänzt die Dame anschließend, sollen zudem Treffen der Zwangsarbeiter stattgefunden haben. „Sie haben Wodka getrunken, geweint und gesungen.“ Ihr Heimweh müsse unerträglich gewesen sein. Dabei seien die meisten Zwangsarbeiter im Vergleich zu größeren Einrichtungen gut in den Familien rund um Ebersberg versorgt worden sein. Manche hätten ihre Familien in den Sechzigerjahren sogar besucht, wie Schurer von einem Zeitzeugen zugetragen wurde.
Für das Ende der Veranstaltung, berichtet Schurer, habe er sich ein besonderes Konzept überlegt. „Geschichtsretter“ hat er dafür auf ein Plakat geschrieben, gleich daneben hängt ein weiteres mit der Aufschrift „Geschichtserzähler“. Viele junge und ältere Menschen finden sich zusammen, möchten erzählen und zuhören, was vor 80 Jahren geschehen ist. „Geschichten retten eben“, sagt Schurer. Manche der Bürger haben sich dafür zu Treffen verabredet. Der Hobbyhistoriker nennt das „Eintrittskarten“ zu jemandes Erinnerungen. Er betont, wie viel Vertrauen notwendig sei, um die Geschichten von damals zu erzählen. „Viele Menschen verschließen sich“, sagt er, „wenn es um die eigene Familiengeschichte geht.“ Während seiner Recherchen sei das oftmals passiert. Das müsse man respektieren.
Auf die Frage, wie Schurer die Veranstaltung rückblickend wahrgenommen habe, lacht er. „Befangen“ sei er von dem Nachmittag und den zahlreichen Teilnehmerbeiträgen. Ob eine weitere Geschichtswerkstatt stattfinden wird, ist jedoch noch offen. Er wolle sich zunächst um die Nachfolge-Kontakte kümmern, die sich nun bei ihm gemeldet hätten. „Wir hätten es bereut, wenn wir es nicht versucht hätten“, sagt er. Dass es gleich so gut funktioniert – damit hätte er nicht gerechnet.