Süddeutsche Zeitung

Ebersberg:Wissen bewahrt vor Angst

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Raketen und Böller in der Silvesternacht können in manchen Flüchtlingen schlimme Erinnerungen wecken. Psychotherapeut Claus-Erich Krüger sieht aber nicht per se die Gefahr, dass das zu psychischen Krisen führt

Von Annalena Ehrlicher, Ebersberg

Das Abfeuern von Silvester-Raketen ist nie für alle eine Freude. Wie aber geht es den im Landkreis untergebrachten Flüchtlingen, die teilweise aus Kriegsgebieten kommen und den Brauch, an Silvester bunte Raketen in den Himmel zu schießen, nicht kennen? Claus-Erich Krüger, Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Kreisklinik Ebersberg, erläutert: "Es gibt nicht ein Ereignis, das Leute krank macht oder zu schweren psychischen Krisen führt." Das Abschießen von Silvesterraketen und Böllern sei also nicht per se etwas, worüber man sich Sorgen machen müsse.

Die Reize, auf die eine traumatisierte Person reagiert, können unterschiedlicher Natur sein: "Das können Filme, Gespräche, Bilder sein, aber auch plötzliche Erinnerungen", führt Krüger aus. "Und nur ein Teil der Leute, die konfrontiert werden mit traumatischen Ereignissen, erkranken letztlich auch psychisch daran." Der Chefarzt verweist auf eine Studie zu US-Veteranen im Vietnam, der zufolge "nur 30 Prozent der Heimkehrer schwer erkrankt sind". Häufig seien Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen bereits zuvor psychisch vorbelastet gewesen, "mit Alkoholproblemen, Ängsten, Depressionen und Ähnlichem".

Letztlich heißt das: "Man muss damit rechnen, dass Leute, die durch schwere Lebenssituationen gegangen sind, sehr unterschiedlich reagieren", so Krüger. Unter dem Stichwort der "Resilienz" versteht man in der Psychotherapie gewissermaßen die geistige Widerstandskraft von Menschen. "Nicht jeder Körper reagiert in gleicher Weise auf Reize - bei der Psyche ist das nicht anders", erklärt der Chefarzt.

Die Symptome, die Trauma-Patienten aufweisen, können dabei ebenso vielfältig sein. Von Verspannungen über leichtes Unwohlsein und Kopfschmerzen bis hin zu schweren Traumafolgestörungen. "Dass aber ein einzelner Moment das alles auslöst, das ist eine eher unbegründete Furcht", sagt er.

Ob es traumatisierten Flüchtlingen sogar helfen könnte, beim Böllern dabei zu sein? "Dazu gibt es, soweit ich weiß, noch keine Studien - die Überlegung ist aber interessant", antwortet er. Trauma-Therapie habe schließlich grundsätzlich das Ziel, Leuten dabei zu helfen, sich von dem jeweiligen Trauma zu distanzieren und psychisch stabiler zu werden - "auch wenn man sich willentlich oder unwillentlich an Dinge erinnert, die schlimm waren", fügt er hinzu.

Ein erster Schritt dafür sei, eine sichere Umgebung und Stabilität zu finden, raus aus den traumatischen Situationen zu kommen - "ohne äußere Stabilität, keine innere Stabilität". Für die Flüchtlinge sei also der erste Schritt bereits getan, indem sie sich in sichere Länder gerettet haben. Der nächste Schritt, die eigentliche Therapie, könne unterschiedlich sein: Üblicherweise arbeiten Arzt und Patient gemeinsam die Situation miteinander durch oder eine Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis wird herbeigeführt. Ein größeres Problem sieht Krüger deshalb darin, dass eine Behandlung derjenigen Flüchtlinge, die tatsächlich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, durch die Sprachbarriere erschwert wird. "Eine Psychotherapie braucht Zeit und funktioniert am besten in der Muttersprache, da man die tieferen Gefühle in dieser am besten zum Ausdruck bringen kann", erläutert er.

"Hier im Landkreis gibt es aber erst mal keine Bedrohung für die Flüchtlinge, sie sind raus aus dem Krisengebiet - bereits das ist entlastend", so Krüger. Stabilität, Sicherheit und die Information, wie und warum bunte Raketen und Knallfrösche zum Explodieren gebracht werden - das seien die Mittel gegen die mögliche Angst bei Flüchtlingen. Durch eine sogenannte "Realitätsprüfung" können die Asylbewerber, falls sie zunächst erschrecken, mit einem Blick aus dem Fenster feststellen, dass alles in Ordnung ist. "Das ist tatsächlich ganz wichtig, um Vergangenheit und Gegenwart auseinander zu halten", erläutert der Psychotherapeut. Zusätzlich helfe es, mit Leuten zusammen zu sein, die einem bekannt und vertraut seien. "Auf bereits auffällige Flüchtlinge muss man natürlich trotzdem besonders achten", fügt er hinzu. Ob jemand an Schlafstörungen, Verspannungsschmerzen oder Ähnlichem leide, könne ein Indikator sein. Dazu kommt: "Ein Vierjähriger kann sicherlich schlechter entscheiden, ob er Böller oder Granaten hört", betont Krüger, "da wäre es natürlich gut, wenn jemand da wäre, der Sicherheit und Schutz gibt."

Dass eine Trauma-Situation wieder aufkommt, sei üblicherweise Resultat einer unerwarteten Konfrontation. Silvesterraketen seien damit grundsätzlich keine größere Bedrohung als beispielsweise Filme oder Nachrichten mit Bildern aus den Krisengebieten. "Probeböllern" wie im fränkischen Reichenberg hingegen "beruhigt eher die Veranstalter als die Flüchtlinge", ist sich der Psychotherapeut sicher.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2015
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