Ebersberg:"Wer Krise sagt, lügt"

Larissa Wolff ist Ebersbergerin mit ukrainischen Wurzeln. Sie berichtet über die Ängste und Gefahren, die ihre Familie in der alten Heimat ausstehen muss. Dem Westen wirft sie vor, den Konflikt zu verharmlosen und zu zögerlich gegen Russland zu sein.

Von Sara Kreuter

Bei einem Banküberfall hat das kleine ukrainische Mädchen seinem Teddybär das Ohr abgebissen, aus Versehen. Per Telefon hat die Mutter des Kindes Larissa Wolff voll Angst von dem Vorfall berichtet. In letzter Zeit häufen sich diese Anrufe von Familienmitgliedern und Bekannten. Immer öfter weiß Wolffs Familie in der Ukraine von Grausamkeiten, Überfällen und Vergewaltigungen zu berichten; von Hass und von Schrecken - die Kinder bleiben traumatisiert zurück. "Ich habe Angst um meine Familie", sagt Wolff.

Ebersberg: Die Ebersberger Radiologin Larissa Wolff mit einem Bild ihrer Geburtsstadt Ivano-Frankivsk in der Westukraine.

Die Ebersberger Radiologin Larissa Wolff mit einem Bild ihrer Geburtsstadt Ivano-Frankivsk in der Westukraine.

(Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

Die 44-jährige Ebersbergerin stammt aus Ivano-Frankivsk, einer Stadt im Westen der Ukraine. Wolff hat Familie in beiden Teilen des Landes, auch auf der Krim. Ihr Vater kommt aus der Westukraine, ihre Mutter stammt ursprünglich aus dem Osten, aus den umstrittenen Gebieten. Wolff selbst lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland. Nach dem Abitur in der Ukraine begann sie zunächst ein Studium in Sankt Petersburg und zog, weil sie in Russland keine Perspektive für sich sah, nach Deutschland. Sie studierte in München Medizin und ist heute Fachärztin für Radiologie. Wolff hat sich in Ebersberg ein gutes Leben aufgebaut, besitzt ein schönes Haus, Familie. Aber die Sorge um das Heimatland wiegt schwer. "Seit einem halben Jahr befinde ich mich in einem aggressiv-depressiven Zustand", sagt Wolff.

Wolff beherrscht die deutsche Sprache fehlerfrei. Sie ist sehr gebildet, hat sich in die Tiefen des ukrainisch-russischen Konflikts hineingearbeitet. Die Zeitungen der vergangenen Woche liegen auf ihrem Wohnzimmertisch, einzelne Artikel sind rot gekennzeichnet, Textstellen mit dem Kugelschreiber bearbeitet. "Mir wird ganz schlecht, wenn ich das lese", empört sich Wolff. Präsident Putin finde im Westen immer mehr Sympathisanten, klagt sie - "und das macht mir Angst". Aus ihrer Studienzeit kennt sie die Gegenseite, kennt Russland, kennt die Berichterstattung im Land. "Man muss vorsichtig sein, darf nicht alles glauben, was Putin sagt", betont Wolff. Sie selbst hat es oft genug gehört: Die Propaganda, die Schwarz-Weiß-Darstellung, die Devise "alles Schlechte kommt aus Amerika" - so habe man es auch sie gelehrt.

Seitdem sie in Deutschland wohnt, hat Wolff eine andere Perspektive auf die Dinge. "Ich bin Europäerin", betont sie, und das solle überall das Gleiche bedeuten - in Deutschland wie in der Ukraine. Und in Russland, da auch. Selbst wenn es momentan danach nicht aussieht: "Wer kann Putin stoppen?", fragt sie. Die Antwort ist ernüchternd: "Ich sehe keinen Ausweg."

Denn Krise und Konflikt, wie die Unruhen in der Ukraine in den westlichen Medien betitelt werden, seien verharmlosende Namen für den tatsächlichen Zustand im Land: "Krieg, Krieg, Krieg!", sei es, mahnt Wolff, vielleicht nicht de jure, sicherlich aber de facto. Die Besetzung der Krim sei Fakt, ebenso wie ungehinderte Waffenbelieferungen in die Ostukraine durch Russland. "Und das betrifft wirklich uns alle", mahnt Wolff. Die Waffen in den Händen der Separatisten und Terroristen könnten bei Angriffen auf Kraftwerke oder Ölraffinerien zu verheerenden Umweltkatastrophen führen.

Wolff stellt die europäische Gleichgültigkeit an den Pranger: Zwölf ukrainische Flugzeuge seien über dem Gebiet der Ostukraine abgeschossen worden - es folgten keine Konsequenzen. Erst der Abschuss der Malaysia Airlines Maschine und der Tod von vielen Unbeteiligten habe die Europäische Union aufgerüttelt. Nach dem Absturz der Maschine versprachen Medien und Politiker die große Wende - Wolff zweifelt. "Es bleibt bei den Worten, wo sind die Taten?" Gerade ein Land so reich wie Deutschland stehe in der Pflicht - so Wolffs Aufruf - sich stärker zu solidarisieren. Proteste in Europa und Amerika könnten den lang ersehnten Wandel in der Ukraine unterstützen.

Wolffs Familie geht mit gutem Vorbild voran. Sie hat Flüchtlinge aufgenommen, entfernte Verwandte, ein 18-jähriges Mädchen mit Ehemann, Schwiegermutter und dem dreimonatigen Kind; sie hatten Angst. Die Menschen im Westen der Ukraine bemühen sich, die Not zu lindern, mit den beschränkten Mitteln, die zur Verfügung stehen. "Das Land ist bankrott, weil alles Geld in die Armee fließt", bemerkt Wolff, "dort, wo meine Familie wohnt, sind die Leute auch arm: Krank, voll Angst, sie wohnen in kleinen Wohnungen". Ihre jüngere Schwester beispielsweise, mit Hochschulabschluss, verdient umgerechnet knapp 200 Dollar im Monat.

Deshalb ärgert sich Wolff besonders über die negative Darstellung der Westukraine in den russischen Medien. Die ukrainische Armee bombardiere gezielt Zivilisten, Unschuldige, heiße es. "Dort leben keine Unmenschen", betont Wolff, "dort leben nette Menschen, es ist schön dort". Sonnenblumen und Gerstenfelder sind es, die ihr vor Augen stehen, wenn sie an die Ukraine denkt; die Weite und die Sonne. Sie sieht ein Land im Umbruch, was die Proteste jetzt und die Orange Revolution vor zehn Jahren beweisen würden; ein Land, das die scharfe Kritik nicht verdient, die es bekommt. Wolff ist stolz auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft, aber sie ist auch stolz auf ihr Heimatland, das sie so gerne vereint sehen würde.

Wolff hält ein Plastikherz in der Hand. Ihre siebenjährige Tochter hat es aus Steckperlen gebastelt, in den Farben der Flagge der Ukraine. In den Sommerferien wird die kleine Familie, wie schon so oft, Wolffs Mutter in Ivano-Frankivsk besuchen. Diesmal gehe sie mit einem komischen Gefühl, gesteht Wolff: "Ich habe Angst um meine Tochter." Auch für die vielen Kinder der Ukraine schlägt ihr Herz. Sie hat gehört, dass die Separatisten in Slavyansk, einer Stadt bei Donezk, die Schulen vermint haben. "Schulen! Kinder! Wie kann man nur?", fragt Wolff. Am ersten September beginnt in Slavyansk die Schule, und mehr als alles andere wünscht sich Wolff, dass die Kinder von den Wehen des Krieges weitestgehend bewahrt bleiben und ungehindert in die Schule gehen können.

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