Ebersberg:Rettung vor dem Säurefraß

Dank Kreisarchivar Bernhard Schäfer werden nun zahlreiche historische Dokumente aus dem Landkreis chemisch behandelt. Damit verhindern die Kommunen, dass ihre Archivbestände irgendwann in der Hand zerbröseln

Von Anja Blum

Zeitungspapier hatte immer, da gibt es nichts zu beschönigen, eine besonders miese Qualität. "Deswegen gehören zahlreiche Verlage zu unseren Kunden", sagt Sofia Hilgevoord von Nitrochemie. Das Unternehmen hat sich unter dem vielsagenden Namen "Papersave" dem Erhalt von Schriftgut verschrieben, neben Verlagen arbeitet die Firma hauptsächlich mit großen Archiven und Bibliotheken zusammen. Doch auch kleinere Bestände können gerettet werden - wenn sich deren Eigentümer zusammentun.

Paper Save, Nitrochemie Aschau GmbH, Verfahren zur Entsäuerung von Papier aus Archiven, Behandlungskammern

Massenhafte Entsäuerung: Bis zu 800 Kilo Papier passen in die Behandlungskammern von "Paper Save".

(Foto: Nitrochemie/oh)

So geschehen nun im Landkreis Ebersberg: An einer Initiative von Kreisarchivar Bernhard Schäfer beteiligen sich 15 Kommunen, gemeinsam bringen sie es auf mehr als 25 Regalmeter Archivmaterial, das nun das Verfahren von Papersave durchlaufen wird. Dabei handelt es sich um die historischen Protokollbücher der Gemeinden, also Schriftsätze, die die Sitzungen der kommunalen Gremien ab etwa 1850 dokumentieren. "In diesen Zentralorganen sind viele wichtige Beschlüsse gefasst worden, anhand derer sich die Ortsgeschichte gut nachvollziehen lässt", begründet Schäfer die Entscheidung, zunächst die Protokollbücher chemisch behandeln zu lassen. "Es ist auf jeden Fall ein Anfang." Zum bayerischen Archivtag Mitte März wurde Schäfer eingeladen, das Projekt vorzustellen. "Als landkreisweite Kooperation haben wir hier offenbar eine Vorreiterrolle", so der Historiker.

Paper Save, Nitrochemie Aschau GmbH, Verfahren zur Entsäuerung von Papier aus Archiven

Papersave arbeitet hauptsächlich mit großen Archiven und Bibliotheken zusammen, aber auch kleinere Bestände können gerettet werden, wenn sich deren Eigentümer zusammentun - so wie zurzeit in Ebersberg.

(Foto: Nitrochemie/oh)

Das Problem: Die Bestände der Archive und Bibliotheken sind von Säurefraß bedroht - laut Papersave 80 bis 90 Prozent weltweit. Konkret geht es um Dokumente aus etwa 150 Jahren, von 1830 bis 1990. Zuvor nämlich wurde Papier manuell gefertigt, aus Textilfasern geschöpft und mit Tierleim verbunden. "Das Ergebnis ist unter dem Namen Pergament bekannt - und kann nicht sauer werden", sagt Sofia Hilgevoord von Nitrochemie. Mit der industriellen Revolution aber veränderte sich auch die Herstellung von Papier. Es wurde zur Massenware, die Qualität nahm erheblich ab, als Rohstoffe dienten fortan Holzfasern und ein künstlich hergestellter Leim. Was damals niemand ahnte: Aufgrund dieser Zusammensetzung bilden sich im Papier Säuremoleküle. "Das ist eine chemische Reaktion, die über Jahre fortschreitet", sagt Hilgevoord. Wie schnell der Prozess vonstattengeht, sei jedoch sehr unterschiedlich. "Das hängt ganz stark ab von der Qualität der Rohstoffe, aber auch vom Gebrauch des Papiers und vor allem seiner Lagerung und diversen Umweltfaktoren." Bei hoher Luftfeuchtigkeit etwa entstünden die Säuremoleküle besonders schnell.

Bücher in Bibliotheken säuregeschädigt

Unternehmen die Archive nichts gegen den Säurefraß, zerstören sich die Akten quasi selbst.

(Foto: Maurizio Gambarini)

Das Ergebnis jedoch sieht immer gleich aus: Die Säure zerstört die Zellulosefasern, die für die Stabilität des Papiers zuständig sind. Die Blätter vergilben, irgendwann beginnen sie brüchig zu werden und vom Rand her zu zerbröseln. Das Ganze wirkt ein wenig so, als hätten hungrige Mäuschen das Papier ein wenig angeknabbert. Doch die Folgen sind fatal: Zum Schluss kann jede Berührung das Ende des gesamten Artefakts bedeuten.

Irgendwann, wohl Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde das Problem erkannt - doch bis die Papierherstellung umgekrempelt war, verging noch einige Zeit. Erst seit 1990 gibt es - laut Hilgevoord zumindest in Europa - nur noch säurefreies Papier. Die Gefahr ist für alle neueren Schriftstücke also gebannt. Doch die meisten historischen Dokumente sehen ihrer Auflösung entgegen. Sie zu digitalisieren, ist aufwendig und teuer. "Da muss schließlich jemand jede einzelne Seite einscannen", sagt Schäfer. Außerdem bleibt bei Digitalisierung oder Mikroverfilmung nur die Information erhalten, die Originale werden dem Verfall preisgegeben. Bereits brüchig gewordenes Papier zu restaurieren, ist zwar möglich, aber ebenfalls sehr kostspielig. "Da gibt es eben noch keine Massenverfahren", weiß Hilgevoord.

Paper Save, Nitrochemie Aschau GmbH, Verfahren zur Entsäuerung von Papier aus Archiven, Bestimmung des Oberflächen-pH-Wertes

Im Labor kann der pH-Wert von Dokumenten bestimmt werden

(Foto: Nitrochemie/oh)

Insofern bietet Papersave eine bemerkenswerte Alternative, Archivbestände für die Nachwelt zu erhalten: Hier wird das Schriftgut entsäuert - und damit seine Lebensdauer vervielfacht. Und das funktioniert so: "Zellulosefasern haben im Inneren einen Hohlraum, der normalerweise mit Wasser gefüllt ist", erklärt Hilgevoord. Bei Nitrochemie werde das Papier zunächst schonend getrocknet, und die Feuchtigkeit dann ersetzt durch Magnesiumkarbonat, das die Säuremoleküle neutralisiert. "Das Wichtigste dabei ist die Nachhaltigkeit: Es entsteht ein Puffer, der das Magnesiumkarbonat ganz langsam abgibt, so dass auch sich neu bildende Säure immer wieder unschädlich gemacht wird", erklärt die Unternehmenssprecherin. Zu beachten sei allerdings, dass es irgendwann zu spät sei für dieses Verfahren: "Wenn das Papier schon brüchig wird, können wir leider nichts mehr machen."

Paper Save, Nitrochemie Aschau GmbH, Verfahren zur Entsäuerung von Papier aus Archiven

Die Bestände der Archive und Bibliotheken sind von Säurefraß bedroht - laut Papersave 80 bis 90 Prozent weltweit.

(Foto: Nitrochemie/oh)

Grundsätzlich geeignet für die Behandlung sind laut Hilgevoord sämtliche Archivalien: Bücher, aber auch Zeitungen, Urkunden, Landkarten, Pläne, Zeichnungen oder Briefe. Lose Blätter können in Archivschachteln aus Karton entsäuert werden. Sollte ein Foto darunter sein, geschehe diesem nichts. Bei der Abholung wird alles in Metallkörbe von Papersave gepackt - und für den Rest der Zeit auch darin belassen. "So kann nichts verloren gehen oder durcheinander kommen." In Aschau am Inn, wo die Nitrochemie-Gruppe eine ihrer beiden Entsäuerungsanlagen betreibt, die andere steht in der Schweiz, werden die Körbe in große Behandlungskammern geschoben, die aussehen wie überdimensionale Wäschetrommeln. Nach der Erwärmung werden die Kammern für etwa 20 Minuten geflutet, mit einer laut dem Unternehmen ungiftigen und mit allen Materialien verträglichen Lösung. Im Anschluss folgen mehrere Spülgänge, dann eine lange "Rekonditionierungsphase". Der ganze Prozess dauert in etwa fünf Wochen.

Der Kunde aber bemerkt davon rein gar nichts: "Das Material verändert sich nicht", sagt Hilgevoord. Es behalte seine Farben und haptischen Eigenheiten, auch Tinte und Stempel blieben erhalten. "Lediglich bei Zeitungspapier kann es sein, dass es sich ein bisschen anders anfühlt, vielleicht ein wenig fester." Schließlich sei hier das Original so dünn, dass das Hinzufügen von chemischen Stoffen möglicherweise bemerkbar sei. "Aber bei normalen Papier ist das nicht der Fall."

Und um wie viel länger überdauern Archivalien nach der Entsäuerung? Das könne man nicht pauschal beantworten, sagt Hilgevoord, das hänge stark vom Zustand des Materials vor der Behandlung ab. Eine Art Faustregel aber gebe es schon: Papiertechniker könnten jedes Blatt auf seine Lebensdauer hin testen. "Dazu prüft man, wie oft es gefaltet werden kann, bis es bricht, dann folgt eine komplizierte Berechnung." Und dieser Lebensdauerwert erhöhe sich durch eine Entsäuerung etwa um den Faktor fünf oder sechs. "Es geht hier um den Erhalt von Kultur und Geschichte - mit hochmoderner Technologie. Das ist sehr spannend", schwärmt Hilgevoord.

Indes: Für Archivare mit kleineren Beständen, Ortschronisten oder Familienforscher ist Papersave eigentlich nicht geeignet. "Wenn jemand nur eine Schachtel mit Briefen von der Urgroßmutter für die nächsten Generationen retten will, ist das schwierig", sagt Hilgevoord, schließlich fasse jede einzelne Kammer in Aschau bis zu 800 Kilo. Wenn sich aber - wie nun im Fall des Ebersberger Landkreises - mehrere kleinere Kunden zusammentäten, so dass mit ihrem Material ein Behandlungsvorgang gefüllt werden könne, so habe das Unternehmen dagegen nichts einzuwenden. "Dann lohnt sich das für uns - und bleibt für die Auftraggeber bezahlbar."

Der Ebersberger Kreisarchivar rechnet für die kleineren und mittleren Kommunen mit einer "überschaubaren Menge" an Protokollbüchern, nämlich mit ein bis zwei Laufmetern aus den Jahren von 1850 bis 1990. Die Stadt Grafing etwa, für die Schäfer selbst als Archivar zuständig ist, bringe es auf vier Regalmeter. Und da man sich zusammentut, gibt es bei Papersave Mengenrabatt: Für die Archivalien aus dem Landkreis werden laut Schäfer etwa 20 000 Euro fällig. Und das sei die Sache durchaus wert. "Die Sitzungsprotokolle sind in vielerlei Hinsicht Quelle Nummer eins", sagt der Historiker. Und gerade dort, wo der Säurefraß noch nicht zugeschlagen habe, sei es Zeit zu handeln. "Denn es gibt Dinge, die man überhaupt nicht sieht - die aber trotzdem da sind."

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