Ordnung herrscht noch keine an diesem Nachmittag in der Alten Brennerei. Vielmehr kreatives Chaos, wie man so schön sagt. Doch das ist kein Wunder, schließlich scheuen die Aussteller wirklich keinerlei Aufwand, um den Ebersbergern eine beeindruckende Schau zu bieten. Außerdem ist es ja noch ein paar Tage hin bis zur Vernissage. Sie findet statt am Freitag, 20. Januar, um 19 Uhr, es gibt Performances, einen DJ und Drinks.
Klingt cool, oder? Klar, denn hier sind junge Menschen am Werk: 14 Studierende der Kunstakademie in München gestalten gemeinsam diese Schau beim Kunstverein Ebersberg. Und das Besondere ist: Sie stammen aus zwei unterschiedlichen Disziplinen, der Lehrstuhl für Entwurf und Darstellung ( Klasse Katja Knaus) und der Lehrstuhl für Malerei und Grafik ( Klasse Schirin Kretschmann) haben sich für diese Ausstellung zusammengetan. Und zwar ganz konkret: Sie ist kein Nebeneinander von Einzelwerken, sondern zeigt die Disziplinen dicht miteinander verwebt. In vielen Fällen haben sich Innenarchitektur und freie Kunst verbrüdert, um Projekte entstehen zu lassen.
Zum Überthema haben die Studentinnen und Studenten die Linie erkoren. Erstens, weil sie viel Raum lässt für freies Spiel, aber auch, weil die Ausstellung auf einer Spende beruht: Von der Geretsrieder Weberei Rohi bekamen die jungen Kunstschaffenden Garn-Reste geschenkt, lauter "Linien" also, aus denen sie nun dünne Schnüre, dicke Seile und vieles mehr hergestellt haben. So sind diverse Gebilde entstanden, die den Abfällen aus der Textilfertigung zu einem spektakulären Upcycling verhelfen. Ein klassisches Bild im Rahmen sucht man in dieser Schau vergeblich.

Unter dem Titel "Lines" erkunden die Studierenden also "das Faszinosum der Linie in all ihren körperlichen und imaginären Wirkungen". Das Ergebnis sind viele raumgreifende Arbeiten, einige Performances, aber auch Installationen, die den Besucher zur Interaktion einladen. Am deutlichsten bei Felix Richter: Er hat eine ganze Wand mit Gipskarton verkleidet und mit etwa 1600 Nägeln versehen. Noch ist die Wand leer, doch es stehen schon einige Rollen mit Fäden verschiedener Farbe bereit, denn hier dürfen die Gäste aktiv werden: Sie sollen ihre Körperkonturen schemenhaft einfangen, indem sie Fäden um die Nägel legen. "Diese einfache und wiederkehrende Handlung Einzelner erzeugt schließlich sich überlagernde Formen - als Bild einer kollektiven Aktion", erklärt Richter.
Marie Badziong, Jana Drexel Lina Killinger wiederum laden ein, mal auf ganz ungewohnte Weise die Perspektive zu wechseln: Die Besucher der Ausstellung sollen sich hinlegen. Einen ganzen, wenn auch kleinen Raum haben die drei gestaltet, Ziel war es, dessen Atmosphäre zu verändern. "Wir haben den Raum als ziemlich bedrückend empfunden und wollten ihn in eine intime Oase der Stille verwandeln", erklärt Drexel. Auf dem Boden ein Bett aus hellen Wollfäden, ineinander verdreht und verknotet, so dass sie dicht und doch organisch-fließend wirken. Darauf liegend erblickt man mehrere waagerecht gespannte Fadenebenen, die sich überlagern und den schmalen, hohen Raum streng segmentieren. Eine flirrend-gemütliche Kombination der Gegensätze.

Ebenfalls stark mit dem Raum spielen Stella Akal und Burcu Bilgiç. "Come Closer" heißt ihre Installation, die begehbare Strukturen entstehen lassen soll. In einer Ecke leuchten bunte, aufgesprühte Farben an der Wand, doch der Blick und der Weg dorthin sind mehr oder weniger versperrt. Denn quer durch den Raum haben die beiden Künstlerinnen Wollstränge gespannt, für die Haken am Boden haben sie extra einen neuen Belag verlegt. "Die Besucher sollen die Installation physisch und mental durchwandern, je nach Standpunkt ihre eigenen Bilder erzeugen", erklärt Bilgiç. "Das Bildliche ist hier etwas Unerreichbares, das nur als Idee durchscheint."
Bei Luisa Pfeufer und Lena Winterholler wird es ebenfalls raumgreifend: Sie lassen meterlanges geflochtenes Schafwoll- und Baumwollgarn von der Decke der Galerie baumeln. Denn unter dem Titel "Zweckschönheit" wollen die beiden einen Transfer gestalten zwischen zwei traditionellen bayerischen Handwerkstechniken, dem Bundwerk aus der Zimmermannskunst und dem Flechten. "Die statische Struktur des Bundwerks alter Bauernhäuser wird mittels textiler Flechtkunst in drei sich überlagernde Schichten übersetzt", erklärt Winterholler. Einzelne, instabile Stränge möchte das Duo dabei zu einer geschlossenen, ornamentalen Struktur verknoten. So soll ein ambitionierter Dialog entstehen zwischen Material, Handwerk, Architektur und Kunst.

Neben den statischen Installationen gibt es auch prozessuale Arbeiten, die sich der Linie als Materialisierung von Zeit widmen. Lina Killinger etwa zeigt mit höchst ästhetischen Videos, wie sich Farbe in Wasser ausbreitet. Makroskopische Aufnahmen in zweifacher Zeitlupe dokumentieren Bewegung und Konsistenz, lassen Zeit für ein genaues Beobachten der Prozesse von Verdichtung, Ausbreitung und Auflösung.
Sehr meditativ ist auch die Arbeit von Weizhi Wu: Er hat zwei junge Triebe, jeweils in einem Töpfchen Erde stehend, mit einem Faden verbunden. Mittlerweile sind sie einige Zentimeter groß, die rechte Pflanze ist etwas schneller gewachsen, das ist an dem schräg verlaufenden Faden gut zu erkennen. Für Wu bedeutet Linie auch Verbindung: "Die Beziehung zwischen Menschen gleicht diesem Faden, sie ist ebenso zerbrechlich. Vielleicht ist der Faden lang genug, dass mit ihm Wachstum entsteht. Faden als Fessel. Sie ziehen, streiten, ringen, bis sie Kompromisse eingehen - oder der Faden reißt."

Um Handarbeit geht es auch bei Sumire Sakuma, sie hat sich von der Strickliesel inspirieren lassen, einer kleinen Vorrichtung zum Anfertigen von Strickschnüren. Die Künstlerin untersucht diesen Mechanismus anhand selbst gebauter Objekte, deren Bestandteile sie in einem intuitiven Prozess gefunden und verbunden hat. Die eine Arbeit ist dynamisch: Hier dienen die Beine umgedrehter Stühle zum Auffädeln dicker Schnüre, wie Sakuma sogleich vorführt. Die andere Arbeit ist statisch: Eine ausrangierte Holzvitrine dient als Korpus, oben drauf sind Fundstücke wie ein Löffel, ein Schraubenzieher oder eine Stimmgabel befestigt, um die der Faden gewickelt werden kann. Für Sumire spiegeln beide Objekte menschliche Prozesse, körperliche wie geistige, wider: "Wir nehmen etwas auf, verdauen es und scheiden es verwandelt wieder aus."

Wieder einen ganz anderen Ansatz verfolgt Shirel Golde: Ihre "Flex-Netze", zwei ungewöhnliche Wandarbeiten, verbinden die Wolle mit Pigment und Gips. Spontan und experimentell kombiniert und inszeniert Golde das alltägliche, eigentlich gegensätzliche Material neu, wodurch es über sich hinauswächst. Die Arbeiten wirken teils massiv, teils filigran, sie scheinen zerbrechlich und standhaft zugleich. Ein flexibles Netzwerk mit malerischer Struktur.

Und sogar für alle Reste des gespendeten Materials hatten die Studierenden Verwendung: Leonard Senholdt schuf daraus sein Objekt "Restmasse". Haufenweise Garn hat er immer wieder gepresst und mit heißem Wasser übergossen, so dass daraus am Ende ein großer, fester Block entstehen wird. "Dann sind all diese vielen Linien zu einem materialisierten Raum verdichtet", sagt er und grinst.
Ausstellung: "Lines" beim Ebersberger Kunstverein von Studierenden der Akademie der Bildenden Künste München. Galerie Alte Brennerei im Klosterbauhof. Vernissage am Freitag, 20. Januar, um 19 Uhr. Finissage mit Künstlergespräch und Performances am Sonntag, 19. Februar, um 11 Uhr. Geöffnet donnerstags und freitags 18 bis 20 Uhr, samstags 17 bis 20 und sonntags 11 bis 13 Uhr.