Süddeutsche Zeitung

Kunstverein Ebersberg:Poesie trifft Porno

Jiyun Cheon aus München stellt in Ebersberg aus. Ihre Gemälde sind bezaubernd ambivalent.

Von Anja Blum, Ebersberg

Ich dachte, das sei ein Foto!" SZ-Fotograf Peter Hinz-Rosin ist bass erstaunt, als er die Alte Brennerei betritt und das Bild vom Flyer zur neuen Ausstellung beim Kunstverein Ebersberg im Original hängen sieht. Ja, dass Jiyun Cheon eine fantastische Malerin ist, steht außer Frage. Licht und Schatten, Perspektive, Faltenwurf: Ihre Szenen, so poetisch sie auch sein mögen, wirken wie der Realität entnommen. Und doch bieten ihre Werke noch viel mehr als handwerkliche Könnerschaft. Sie sind bezaubernd ambivalent - höchst ästhetisch, erotisch, frech und berührend zugleich. Tiefe ist bei Jiyun Cheon also beileibe nicht nur eine gestalterische Kategorie, sondern vor allem eine des Ausdrucks.

Dementsprechend bescheiden reagiert die Künstlerin auf Lobgesang ob ihrer meisterhaften Technik: "Man muss nur viel genug malen, dann entwickelt sich das von ganz alleine", sagt sie und lächelt. Außerdem komme es darauf ja gar nicht so an, viel wichtiger sei ihr, "den Menschen etwas von mir zu erzählen". Sie habe bereits im Gymnasium angefangen viel zu zeichnen, erzählt Cheon, und dabei ein tiefes, bis dato ungeahntes Gefühl der Kontemplation entdeckt, das sie bis heute an der Malerei festhalten lasse.

Dazu muss man wissen: Jiyun Cheon, 1981 geboren in Südkorea als Tochter eines Architekten, stammt aus einer Kultur der Disziplin und des Leistungsdenkens. Da sei viel Druck gewesen, erzählt sie, der sie freilich zu der Künstlerin gemacht habe, die sie heute sei - dem sie aber an der Staffelei auch stets ein gutes Stück entkommen konnte. Deswegen studierte sie erst in Seoul, dann in Paris und zuletzt in München Malerei, dort als Meisterschülerin von Anke Doberauer. "Und eine Ausstellung wie diese zeigen zu können, das macht mich sehr glücklich."

Ein Gefühl, das sich wohl auch bei den Besuchern der Galerie im Klosterbauhof einstellen dürfte - denn diese Ausstellung ist ein Fest für Augen und Geist. Cheons Werke strahlen schon ganz spontan eine große Anziehungskraft aus, und bei näherer Betrachtung nimmt die Faszination sogar noch einmal zu. Die Künstlerin aus München arbeitet sehr gerne seriell, malt einen einmal gefassten Gedanken in verschiedenen Variationen aus. Die allermeisten ihrer Bilder, in zahllosen zarten Schichten Acryl entstanden, zeigen Menschen, genauer: Mädchen und Frauen. "Deren Gefühle kann ich mich nämlich viel besser nachempfinden", erklärt die Künstlerin.

Allerdings ist Cheons Genre nicht das Porträt, vielmehr will sie ganz persönlich in Kontakt treten mit ihren Modellen, meist sind das Bekannte, und dann die Geschichte dieser Begegnungen erzählen. Ihre Malerei ist offenbar ein Prozess, zu dem zwei Seiten etwas beitragen, verdichtet in einem Bild. So stellt Cheon ihre Protagonistinnen meist in einen märchenhaften Kontext, der dann aber durch gewisse absurde Details sogleich wieder gebrochen wird. Die Ambivalenz: ein Muss für Jiyun Cheon.

Überschrieben ist ihre Schau beim Ebersberger Kunstverein mit dem Titel "Die Gefangenen", denn eine gleichnamige Serie macht einen großen Teil der Exponate aus. Die hier abgebildeten Mädchen haben ausnahmslos schöne Kleider an, wirken oft wie Bräute, doch die Romantik zeigt deutliche Risse: Eines der Mädchen sitzt in der Hocke auf einem Stuhl und hat die Augen verbunden, ein anderes liegt auf dem Boden und wird scheinbar von brennenden Kerzen niedergedrückt, einer kämpferisch dreinblickenden Frau sind die Hände lose auf den Rücken gebunden.

All diese Protagonistinnen befinden sich also in einer Situation, aus der sie sich leicht befreien könnten, die meisten bräuchten nur eine zarte Schleife zu lösen. "Das kann darauf hindeuten, dass sie Gefangene ihrer selbst sind", sagt Cheon und lächelt wie eine Sphinx. "Dennoch ist jede Figur für sich eigenartig und bezieht sich auf ihre eigene Geschichte."

Sind Cheons "Gefangene" - Stichwort Bondage - schon latent erotisch, so wagt sich die Münchner Malerin mit ihrer neustesten Serie noch weiter vor in dieses Fach. Sie widmet sich Szenen aus alten schlüpfrigen Filmen, in billiger Massenproduktion entstanden. "Charakteristisch für sie ist oft eine übertriebene Darstellung von Emotionen mit simpler Gestik und Mimik. Die Schauspielerinnen sind oft sehr stark geschminkt und sehen wie Puppen aus", erklärt Cheon. Es gebe jedoch auch seltene Szenen, wo das echte Gesicht der Darstellerinnen zu sehen sei: "Angst, Enttäuschung oder manchmal nur ein leerer Blick, der jedoch sehr viel sagen kann." Ein Augenblick zwischen Illusion und Wahrheit - wieder so eine Ambivalenz, die die Malerin fasziniert.

Und auch diese "Engel" setzt sie gestalterisch auf spannende Weise in Szene: Mal greift sie Ausschnitte aus den Filmbildern heraus, so dass die Darstellung ins Rätselhafte entfremdet wird, ein Haufen verschlungener nackter Männerleiber - das kann im Zweifel ja vieles bedeuten. Oder sie kombiniert die Pornos mit einer völlig konträren Umgebung: Ein Gemälde zeigt ein pompöses, barockes Himmelbett aus Versailles - im Hintergrund, in einem Spiegel, sieht man eine altmodisch gekleidete Frau mit Hut, die gerade ihren Rock hochzieht.

Auch Cheons "Gift Girls" gehören in die Kategorie Erotik: junge Frauen, die sie mit diesen bunten, fertigen Geschenkschleifenblumen ausstattet, sie tragen sie in den Haaren oder im Mund. Die sexuelle Konnotation aber sollte nicht zu explizit sein, erklärt die Künstlerin, deswegen habe sie sich statt echter Blumen für jene aus Geschenkband entschieden. Kein Wunder, denn Cheon ist auch schon einmal angeeckt mit ihren teils expliziten Darstellungen.

In Ebersberg sieht man zum Beispiel auch ein Mädchen in einem äußerst durchsichtigen Kleid, auf einem umgedrehten Bierkasten stehen, im Arm eine Gummipuppe. Ihre jüngere Schwester aber, damals noch ohne aufblasbare Kollegin, musste einst aus einer Ausstellung weichen. Der Veranstalter, ein Versicherungsunternehmen, habe befürchtet, das Werk könne das Empfinden junger Menschen verletzen, erzählt die Malerin. Da habe sie sich auch durchaus Gedanken gemacht - "aber das ist jetzt schon recht lange her".

Die große Kunst von Cheon ist, dass sie zwar leicht bekleidete Frauen und Mädchen malt, diese aber nie emotional bloßstellt. Zumal unter den "Gefangenen" auch Selbstporträts zu finden sind. Lesbische Asiatinnen? Ein Tabubruch - aber hier voller Zärtlichkeit! Badende Kinder? Ein magischer Moment des Übergangs zwischen den Lebensaltern - Cheon ist fasziniert von der Adoleszenz, einer Erfahrung, die einen immer begleite, sagt sie. Und selbst bei den Pornodarstellerinnen ist es der Malerin ein Anliegen, ihnen "ihre Menschlichkeit zurückzugeben". Jiyun Cheon hat also viel Feingefühl, nicht nur im Pinsel, das steht außer Frage.

"Die Gefangenen", Ausstellung von Jiyun Cheon in der "Alten Brennerei" beim Kunstverein Ebersberg; Eröffnung in Anwesenheit der Künstlerin am Freitag 16. Oktober, um 19 Uhr; zu sehen bis 8. November. Öffnungszeiten: freitags 18 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2020/koei
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